Die Autoren und ihre Beiträge:
Vorwort
Joachim
Poeschke: Einleitung
Michael
Lingohr: Architectus – Ein
virtus-Begriff der frühen Neuzeit?
Hans W.
Hubert: Filarete – Der Architekt als
Tugendfreund
Constanze
Lessing: »Per ignorantia dell'arte si oscurano
le virtudi«. Virtus und Virtuosität in den
»Commentarii« des Lorenzo Ghiberti
Joachim
Poeschke: Virtus und Status des Bildhauers in
der Renaissance
Claudia
Echinger-Maurach: Zur virtù des Malers
in Leonardo da Vincis paragone
Hannah
Baader: Freundschaft versus Automimesis.
Frühneuzeitliche Paradigmen künstlerischer
virtus
Jürg Meyer
zur Capellen: Die virtus Raffaels
Nicole
Hegener: »SANCTI IACOBI EQVES FACIEBAT.«
Signiersucht und Selbsterhebung im Werk Baccio
Bandinellis
Britta
Kusch-Arnhold: Zur Bedeutung der Praxis für die
künstlerische virtus
Julian
Kliemann: Die virtus des Zeuxis
Thomas
Weigel: Tintoretto und das Non-finito
Ortsregister
Personenregister
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Näheres zu den Beiträgen:
Joachim Poeschke:
Einleitung
Der vorliegende Band ist aus dem wissenschaftlichen
Kolloquium, das am 28./29. Mai 2004 vom kunstgeschichtlichen
Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs 496 in
Münster veranstaltet wurde, hervorgegangen. Dem
Schwerpunktthema des Teilprojekts Rechnung tragend, stand im
Mittelpunkt dieser Tagung erneut die Frage nach der
virtus im Wertesystem der Renaissance. Anders jedoch
als in den vorausgegangenen drei Kolloquien, in denen es zum
einen um das Verhältnis von Tugendlehre und
Affektenlehre in der Philosophie, Literatur, Musik und
Bildkunst der Renaissance ging, zum anderen um das
Tugendthema als Leitmotiv der Figurenprogramme und
Inschriften an Renaissancegrabmälern, wird in den
vorliegenden Beiträgen die virtus des
Künstlers in der italienischen Renaissance ins
Blickfeld gerückt. Es stehen somit nicht die
Erwartungen und Vorgaben von Auftraggebern oder die
thematischen Erfordernisse und das Decorum bei der
Bewältigung künstlerischer Aufgaben im Zentrum der
Überlegungen, sondern der Künstler selbst und
seine Profession in der Wahrnehmung der Zeitgenossen und
insbesondere in der Sicht der von humanistischen Interessen
und Leitbildern geprägten kunsttheoretischen Literatur,
die wiederum auf das Selbstverständnis des
Künstlers und damit auch auf die Vermittlung dieses
Selbstverständnisses an das Publikum zurückwirkte.
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Michael Lingohr:
Architectus – ein virtus-Begriff der
frühen Neuzeit?
Der Terminus architectus, wie er im
15. Jahrhundert gebräuchlich war, und der Beruf
des Architekten, so wie dieser zu damaliger Zeit
strukturiert war, werden in der modernen Forschung nach den
heutigen Vorstellungen dieses Berufes interpretiert. Diese
Interpretationen beruhen im wesentlichen auf den Ideen, die
in den Architekturtraktaten Vitruvs und Leon Battista
Albertis niedergelegt wurden. In diesen Texten
verkörpert der Architekt ein bestimmtes
virtus-Konzept und wird zu einem Menschen mit
herausragendem Wissen und mit einem besonderem
ingenium auf allen Gebieten – eine Sichtweise,
welche sehr gut mit jenem »Genie«-Konzept zu
vereinbaren ist, welches im allgemeinen mit dem
Renaissance-Künstler verbunden wird. In der
patristischen Tradition werden mit dem Terminus
»Architekt« sogar noch höhere Tugenden
verbunden, wenn man ihn auf den göttlichen
Schöpfer, die Gründer der christlichen
ecclesia und Kirchenstifter anwendete. Das bedeutet,
daß während des Mittelalters der Terminus
architectus niemals die spezifischen Fähigkeiten
und das ingenium des Architekten als solchen
bezeichneten; diese wurden hingegen im Vergleich zu Daedalus
oder durch spezifische Epitheta ausgedrückt.
Wie spätmittelalterlich-scholastische und
lexikographische Schriften zeigen, geht der Terminus
»Architekt« in seiner ursprünglichen
Bedeutung zurück auf die Bezeichnung für den
bauleitenden und bauüberwachenden Handwerker. Genau
diese Definition bleibt auch im gesamten
15. Jahrhundert in Wörterbüchern und
lexikographischen Untersuchungen unverändert. Sie
bezeichnet den technischen Leiter des Baus – den
capomaestro. Im allgemeinen Gebrauch der Renaissance
folgt die Bedeutung des Begriffs entweder dieser
mittelalterlichen Tradition oder bezeichnet eben ein breites
Panorama architektonischer Fachkenntnis. Er transportiert
jedoch nicht die in den oben genannten Traktaten
formulierten Ideen über den Architektenberuf. In diesem
Beitrag wird deutlich, daß die theoretischen
Schriften, um den Architekten vom Handwerker zu trennen, ein
intellektuelles Images und eine Definition dieser Profession
konstruierten, welche nicht mit der zeitgenössischen
Praxis übereinstimmen.
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Hans W. Hubert:
Filarete – Der Architekt als Tugendfreund
Der Florentiner Goldschmied, Bildhauer und Architekt Antonio
Averlino (um 1400–um 1465) legte sich unter dem
Einfluß des Humanisten Francesco Filelfo in Mailand
den programmatisch zu verstehenden akademischen Namen
Filarete
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Freund der Tugend) zu. Zwischen 1460 und 1464 verfaßte
er am Sforza-Hof einen Architekturtraktat in Form einer
utopischen Erzählung, die die Planung und Errichtung
der Idealstadt Sforzinda und die Beschreibung der
untergegangenen antiken Stadt Plusiapolis zum Gegenstand
hat. Der weitschweifige Text enthält zahlreiche
Hinweise auf Filaretes Tugendvorstellung, weil sie der
Schilderung des komplexen Wechselverhältnisses von
Fürst und Künstler das innere tragende Gerüst
verleiht. Es ist nämlich das Streben nach Ruhm durch
Tugend, welches die beiden miteinander verbindet und, in der
Vorstellung Filaretes, wechselseitig aufeinander angewiesen
macht: der größte Ausweis an Tugend und die beste
Sicherung des Nachruhmes bestünde nämlich im Bauen
und dies könne zufriedenstellend nur durch einen
kenntnisreichen und mit den unterschiedlichsten
künstlerisch-technischen Fähigkeiten
ausgestatteten Meister garantiert werden. Außerdem
müsse dieser universale Künstler eine besondere
technische, intellektuelle und gestalterische
Erfindungskraft besitzen. Als Ausweis dieser
Künstlertugenden versteht Filarete, seine im Text
geschilderten Gebäudeentwürfe sowie seine
Erfindung von Allegorien.
In der detaillierten Beschreibung des Entwurfes für die
»Casa del Vizio e della virtù« im
fünfzehnten Buch seines Traktates kulminiert Filaretes
Tugendvorstellung. Die megalomane Anlage, die der Ausbildung
und Erziehung der Gelehrten, der Soldaten und der Handwerker
diente, wird anhand des Textes und der Traktatillustrationen
rekonstruiert und als architettura parlante
interpretiert, die die Vorstellung eines im Aufstieg mit
Mühe zu erklimmenden Tugendweges sinnbildhaft
verdeutlicht, den der Architekt Filarete reklamiert, selbst
vollzogen zu haben.
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Constanze Lessing:
»Per ignorantia dell'arte si oscurano le virtudi«:
Virtus und Virtuosität in den
»Commentarii« des Lorenzo Ghiberti
Nach verbreiteter Auffassung bemißt sich der Wert von
Lorenzo Ghibertis »Commentarii« (um
1447–1455) in ihrem frühen Zeugnischarakter als
Künstlerschrift, ohne die Bedeutung eines Alberti oder
Filarete zu erlangen. Dieses Urteil stützt sich auf
zwei vermeintliche Gewißheiten; zum einem scheint es
den drei Büchern der »Commentarii« am
Zusammenhalt einer thematischen Gesamtheit zu mangeln, zum
anderen lassen sich weite Strecken des Texts als Zitate
identifizieren.
Eine erneute Analyse insbesondere des ersten Buches
läßt dagegen die Prinzipien der Gesamtkomposition
sichtbar werden. Hier entwickeln sich die argumentativen
Erzählstränge aller drei Bücher vornehmlich
aus der Rezeption antiker Texte, also derjenigen Stellen,
denen die Forschung insgesamt wenig Beachtung schenkt. Eine
wohlbedachte Auswahl nach Vitruv und Plinius ordnet Ghiberti
im ersten Kommentar zu einem Plädoyer über die
Funktionalitäten der Kunstliteratur nach dem Vorbild
der Antike. So begründen die vielschichtigen Facetten
von Kunst und Literatur in ihrer gegenseitigen
Ergänzung und Durchdringung seine Doppelsicht auf
Theorie und Praxis, sowohl in der Kunst als auch in der
Kunstliteratur.
Für Ghibertis Selbstverständnis von zentraler
Bedeutung ist das Vitruvsche System künstlerischer
Ausbildung, das grundsätzlich zwischen theoretischen
und praktischen Inhalten unterscheidet. So legen die
artes liberales im Sinne umfassender
wissenschaftlicher Bildung den Grundstein sowohl für
eine moralische Tugendlehre des Bildhauers und Malers als
auch für seine künstlerische
Ausdrucksfähigkeit. In weiten Teilen deckt sich die
Zweiteilung in Theorie und Praxis mit den Gattungen der
Kunsttheorie, für die Vitruv steht, und der
Kunsthistoriographie, die mit Plinius vertreten ist. Als
deren Fortsetzungen können das zweite Buch der
»Commentarii« zur nachantiken
Künstlerhistoriographie und das dritte Buch über
die Theorie der Optik und Perspektive gelesen werden. So
verschränken sich Kunst und Schriftstellertum in den
»Commentarii« zum Desiderat einer Kunstliteratur,
deren Unterarten sowohl die wissenschaftliche Bildung des
Künstlers als auch die visuelle Überzeugungskraft
seiner Werke unter Beweis stellen.
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Joachim Poeschke:
Virtus und Status des Bildhauers in der Renaissance
Der mit Albertis Malereitraktat anhebende und bis ins
16. Jahrhundert sich fortsetzende Rangstreit der
Künste, der »Paragone«, der zunächst
durch eine entschiedene Parteinahme für die Malerei und
gegen die Skulptur gekennzeichnet war, implizierte in der
Frage nach der virtus zugleich die nach dem Status
des Malers im Vergleich mit dem des Bildhauers. Dabei wurde
in der theoretischen Auseinandersetzung lange an Argumenten
festgehalten, die durch die Fakten eigentlich schon obsolet
geworden waren. Denn schon zu Beginn der
Frührenaissance hatte Donatello seine Zeitgenossen
durch künstlerische Fähigkeiten und Tugenden
beeindruckt, die über die noch von Leonardo da Vinci
heraufbeschworenen Vorstellungen vom Bildhauer als
bloßem Handwerkerkünstler und von der Bildhauerei
als einer nur mechanischen Kunst weit hinausgingen.
Gleichwohl galt die Bildhauerkunst weiterhin als generell
der Malerei nicht ebenbürtig, sondern als ihr
intellektuell unterlegen. Allenfalls die an die Malerei sich
annähernde Skulptur, d.h. die Reliefkunst, konnte einen
vergleichbaren Rang beanspruchen. An dieser
Einschätzung lassen sowohl Albertis als auch Leonardos
einschlägige Äußerungen keinen Zweifel. Erst
um die Jahrhundertwende setzte eine theoretische Aufwertung
der Skulptur ein, die zugleich dem Bildhauer einen
höheren Status verlieh. Im Traktat des Pomponius
Gauricus beginnt diese Entwicklung sich anzubahnen, auf
ihren Höhepunkt gelangte sie durch die im Werk
Michelangelos vorbereitete theoretische Überhöhung
des bildhauerischen Schaffensprozesses, die dadurch
erfolgte, daß der zuvor rein technisch definierte
Begriff des »levare« – des
Herausarbeitens einer Figur aus dem Stein – als
Symbol geistigen Hervorbringens schlechthin verstanden
wurde.
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Claudia Echinger-Maurach:
Zur virtù des Malers in Leonardo da Vincis
paragone
Die virtù des Malers, wie sie Leonardo da
Vinci verstand, wird aus Teil 1, dem sogenannten
»Paragone«, seines »Libro di
Pittura« herausgearbeitet. Für die Analyse
erweisen sich die spätesten Fassungen seiner Gedanken
als die fruchtbarsten. Da es Leonardos Ziel ist, die Malerei
als eine der Naturphilosophie gleichrangige Wissenschaft zu
erweisen, legt er eine Prinzipienlehre dieser Kunst vor, bei
der die Sicherheit der Aussage auf dem Wege mathematischer
Darlegung beruht. Dem Auge als dem überprüfendem
Organ kommt besondere Wichtigkeit zu, ebenso dem Weg des
Bildes, das der Gegenstand aussendet, vom Objekt über
das Auge zum senso commune. Ein eigens entwickeltes,
komplexes Regelwerk von Perspektiven garantiert eine der
Wahrheit der Natur entsprechende Darstellung des Gesehenen
im Kunstwerk, was durch genauere Analysen der
Pflanzendarstellung in der »Felsgrottenmadonna«,
des Portraits der »Ginevra de' Benci« sowie des
»Abendmahls« in S. Maria delle Grazie im
Vergleich zu anderen Meistern des Quattrocento dargelegt
wird.
Nur die Malerei vermag ein wahrheitsgemäßes
Bild der Natur zu vermitteln und dies auf einen Blick, wie
es durch das Hören von Wörtern unmöglich ist.
Die höchste Anziehungskraft übt die Malerei durch
die in ihr aufscheinende »proporzionata armonia«
aus, wie an der »Mona Lisa« und an einer
wissenschaftlichen Zeichnung erläutert wird. Seine
virtù stellt der Maler aber im besonderen
durch die genaueste Beobachtung und entsprechende
Darstellung der im Licht sich zeigenden, verschatteten
Körper unter Beweis. Durch diese Fähigkeit
übertrifft er auch den Bildhauer, dessen Werke den
natürlichen und nicht immer günstigen Bedingungen
von Licht und Schatten unterworfen sind.
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Hannah Baader:
Freundschaft versus Automimesis:
Frühneuzeitliche Paradigmen künstlerischer
virtus
Der Beitrag untersucht zwei frühneuzeitliche Paradigmen
künstlerische virtus: Zum einen das auch auf den
Künstler übertragbare ethische Modell der
amicitia, zum anderen das von Leonardo da Vinci
reflektierte Konzept der Automimesis, das für ihn dann,
wenn sie überwunden wird, ebenfalls zum Ausweis des
künstlerischen – ästhetischen wie
ethischen – Vermögens werden kann. Den
Ausgangspunkt der Überlegungen bildet Leonardos um 1483
entstandene Allegorie der virtus, die er als ein aus
Neid und Tugend zusammengesetztes Zwitterwesen wiedergibt.
Neben ethischen und naturphilosophischen Vorstellungen
spiegeln sich in der unkonventionellen Darstellung die
Spannungen, die den Begriff der virtù in der
Frühen Neuzeit charakterisieren.
Ausgehend vom sog. Fünf-Männerblatt, auf dessen
Rückseite sich Leonardo zum Thema der Freundschaft
äußert, werden dann die zeitgenössischen
Vorstellungen von Freundschaft als einer auf Tugend
ausgerichteten praxis skizziert, mit der sich auch
Prozesse der Produktion und Rezeption von Kunstwerken
beschreiben lassen. Obwohl Leonardo an das Konzept der
Freundschaft anzuknüpfen scheint, wird seine
Vorstellung künstlerischer virtus aber
stärker von dem aus seinen naturwissenschaftlichen
Interessen gespeisten Postulat einer Überwindung der
Automimesis geprägt. In dem Nebeneinander dieser
unterschiedlichen Konzeptionen künstlerischer
Produktivität ergibt sich auch für die
künstlerische virtus eine Doppelcodierung
– als Nachahmung der Kräfte der Natur wie als
Prozess der Selbstvervollkommnung im Sinne antiker Ethik.
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Jürg Meyer zur Capellen:
Die virtus Raffaels
Die Untersuchung zur virtus von Raffael befaßt
sich sowohl mit deren Spezifika als auch mit den Wandlungen,
die sie im Verlauf der Zeit durchlaufen hat. Nach dem
frühzeitigen, unerwarteten Tod von Raffael fielen die
Lobeshymnen der Literaten noch vergleichsweise konventionell
aus, indem sie sich etwa auf Zeuxis oder Apelles bezogen.
Dagegen hatte bereits Baldassare Castiglione im
»Cortegiano« in der Person Raffael die Verbindung
von persönlicher und künstlerischer grazia
erkannt, die im Zusammenspiel mit der licenzia den
Künstler zum herausragenden Maler gemacht habe. Giorgio
Vasari stellte indes die virtus Raffaels als eine
Summe von virtutes dar, in denen die
künstlerischen Fähigkeiten eine einmalige
Verbindung mit persönlichen Tugenden eingingen.
Zugleich erkannte er auf die Ausbildung bei Perugino
zurückzuführende Schwächen in der Zeichnung,
welche Raffael daran hinderten, die überragende
künstlerische Höhe von Michelangelos Genius zu
erreichen, dem er allein das Attribut des divino
zuerkannte. – Bereits im Umfeld des Tridentinischen
Konzils kritisierte dagegen Pietro Aretino die licentia
illecita, welche sich Michelangelo erlaubt habe und
stellte ihm als positives Beispiel Raffael gegenüber.
Aretino reagierte damit frühzeitig auf einen
allgemeinen, religiös-moralisch begründeten
Stimmungsumschwung, indem nun auch die höchsten
künstlerischen Fähigkeiten, also die
künstlerische virtus, in unlösbarem
Zusammenhang mit der convenienza gesehen wurden. Es
sind die Künstler des frühen und hohen Barock, die
sich in diesem Sinn auf Raffael bezogen haben und seine
leicht verständliche Bildsprache für einen
künstlerischen Neuanfang nutzten. In der Kunstliteratur
hat dagegen erst Pietro Bellori nach der Mitte des
17. Jahrhunderts den entscheidenden Schritt getan und
Raffael über alle anderen Künstler gestellt.
Für ihn ergab sich offenbar die Summe aller
künstlerischen Fähigkeiten aus einer
persönlichen virtus, und die nun
überragende Bedeutung Raffaels wurde für Bellori
durch den Umstand bestätigt, daß inzwischen alle
bemerkenswerten Künstler dem Beispiel des großen
Urbinaten gefolgt waren.
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Nicole Hegener:
»SANCTI IACOBI EQVES FACIEBAT.« Signiersucht und
Selbsterhebung im Werk Baccio Bandinellis
Nicole Hegener behandelt einen spezifischen Aspekt der
künstlerischen Arbeit des Florentiner Bildhauers Baccio
Bandinelli (1493–1560): die Besessenheit, seine Werke
zu signieren. Diese Besonderheit ist von Giorgio Vasari,
»dem Vater der Kunstgeschichte«, in den
»Vite« hervorgehoben worden. Darin beschreibt
Vasari Bandinelli als arrogant und ehrgeizig, neidisch und
zänkisch. Kurz gesagt macht er ihn zum negativen
Gegenbild seines Helden Michelangelo.
Sein ganzes Leben unter der steten Präsenz des
älteren Michelangelo (1475–1564) leidend,
fühlte Bandinelli mehr als jeder andere Florentiner
Bildhauer die Notwendigkeit, seine künstlerische
virtus unter Beweis zu stellen. Da schon sein Vater
ein promediceischer Goldschmied war, verpflichteten Papst
Clemens VII. und Herzog Cosimo I. de' Medici
Bandinelli als Hofbildhauer. Sein enormer Erfolg konnte ihm
dennoch nie die ersehnte Befriedigung verschaffen. Weder
seine zweifache Ritterwürde – er
gehörte zum mediceischen Petrus-Orden und zum
spanischen Militärorden der
Santiago-Ritter – noch die Errichtung der
Hercules-Cacus-Gruppe auf der Piazza della Signoria konnten
ihm helfen, aus dem langen Schatten von Michelangelos
»David« herauszutreten.
Daher entwickelte Bandinelli verschiedene Strategien der
Selbsterhebung. Rastlos versuchte er mit dem Divino
durch die Hervorbringung ehrgeiziger Werke gleichzuziehen
oder ihn sogar zu übertreffen. Viele dieser Werke sind
von kolossalen Ausmaßen und teils subtil, teils
großspurig signiert. Diese Signaturen sind
überaus vielfältig: in schriftlicher Form, als
Selbstportraits, Wappen und abgewandelte Medici-Impresen.
Besonders aussagekräftig und bezeichnend ist, daß
Bandinelli einige Male die faciebat-Formel verwendet,
die schon in der Praefatio von Plinius' »Naturalis
historia« genannt wird. Michelangelo benutzte diese
Formel zum ersten Mal für seine Signatur an der
römischen »Pietà«. Im Gegensatz zu
Michelangelo, der nur dieses eine frühe Werk signierte,
signierte Bandinelli – bestrebt,
»göttlichen« Ruhm zu erlangen –
immer öfter seine Werke, wobei er seinen Rittertitel
und die Insignien des Santiago-Ordens benutzte.
Diese self-promotion Bandinellis nachzeichnend werden
auch einige bisher unbekannte skulpturale und
architektonische Zeugnisse vorgestellt. Die Qualität
und Originalität dieser individuellen Kunstwerke tragen
zu einer gerechteren Bewertung des Künstlers bei, der
noch immer auf die Befreiung von Vasaris damnatio
memoriae wartet.
[nach oben / to the top]
Britta Kusch-Arnhold:
Zur Bedeutung der Praxis für die künstlerische
virtus
Der vorliegende Beitrag befaßt sich mit der Bewertung
der handwerklichen Tätigkeit bzw. der tätigen
Praxis des Künstlers in der kunsttheoretischen
Literatur der Renaissance. Die Handtätigkeit oder
allgemeiner der dafür notwendige labor, die
körperliche Mühe, war im scholastischen
artes-System ein Argument, die Bildkünste den
artes mechanicae zuzuordnen. In der Renaissance war
es häufig der argumentative Umgang mit genau diesem
Teil der Kunstausübung, der über die jeweils zu
bestimmende »Dignitätshöhe« der
künstlerischen Tätigkeit insgesamt und damit
über den Status des Ausübenden sowie darüber,
ob dieser durch seine Kunstübung virtù
erlangen kann, entschied.
Die Überlegungen nehmen – nach einem kurzen
Blick auf die allegorische Zeichnung eines zum Ruhm
strebenden Philótechnos – ihren Ausgang
von einem Emblem Acchille Bocchis (Symbolicarum quaestionum
[...] 1575, Buch 2, Symb. 36), in dem der
Tugenderwerb und die Kunstausübung metaphorisch analog
gesetzt werden und beiden Tätigkeiten Erfolg durch die
tätige Praxis (»usus« und »labor«)
versprochen wird.
Die Bindung der ethischen wie künstlerischen
Tüchtigkeit an Übung und Praxis spielt in den
kunsttheoretischen Schriften eine wesentliche Rolle, wobei
im Folgenden das Hauptaugenmerk auf Benedetto Varchis
Kunstvorlesungen gelegt wird. Es wird nachgewiesen, wie
Varchi – in enger Anlehnung an Aristoteles und
Schriften aristotelischer Tradition – den
Anspruch auf einen hohen Status der Bildkünste
philosophisch zu begründen sucht. Vor dem Hintergrund
des Sonetts »Non ha l'ottimo artista alcun
concetto« von Michelangelo zeigt Varchi zunächst,
daß jede Idee oder Bildvorstellung nach ihrer
tatsächlichen Realisierung verlangt, andernfalls
würde sie niemals zur Perfektion geführt werden
können. Indem er also das handwerkliche Tun mit einem
Akt der Ideenvervollkommnung analog setzt, liefert er eine
wesentliche Begründung für die philosophische
Nobilität der Bildkünste.
Varchi löst sich im weiteren von älteren
Versuchen, die künstlerische Praxis mit den
theoretischen Wissenschaften zusammenzuschließen,
statt dessen trennt er diese – wieder im Sinne
Aristoteles' – ausdrücklich von den
spekulativen Disziplinen und unterstreicht besonders die
Parallelität von künstlerischerer Arbeit und
tugendhaftem Handeln. Vermeintliche »Defizite« der
Skulptur, daß sie z.B. mehr fatica del corpo
erfordere als die Malerei, versucht er dabei durch andere
Argumente auszugleichen. So hebt er z.B. ausdrücklich
darauf ab, daß der Bildhauer nicht wie der Maler sein
Werk immer wieder verbessern kann, tue er dies, würde
sein Werk nicht perfekt sein. Zugleich sei es prinzipiell
möglich in den Künsten zu irren, ohne sein
Künstlertum zu verlieren, in den Tugenden sei dies
jedoch nicht möglich. So drängt sich der
Schluß auf, daß die Tätigkeit des
Steinbildhauers in ihrer den Erfordernissen des Materials
unterworfenen Anstrengung des Geistes und der Hände der
Tugendhaftigkeit (der virtù als solcher) bei
Varchi näher kommt als die des Malers. Auch wenn er
dies, wegen seinem Bemühen, den Paragone-Streit
philosophisch mit dem Zweckargument beizulegen, so deutlich
nicht ausspricht.
Nach Varchis Überzeugung bemißt der Wert jeder
Kunst sich nämlich nach ihrem Zweck – je nobler
das Ziel einer Kunst sei, desto nobler sei sie selbst. Da er
das Zweckargument vor alle anderen Argumente stellt, spielt
für ihn die Beschaffenheit der Künste für die
Feststellung ihres Ranges nach philosophischen Kriterien
keine Rolle. Malerei, Skulptur und Poesie seien nicht nur
gleichen Ranges und Wertes, sondern ein und dasselbe, weil
sie sämtlich die Nachahmung der Natur zum Ziel
hätten.
[nach oben / to the top]
Julian Kliemann:
Die virtus des Zeuxis
Viele allegorische Künstlerporträts, aber auch
Ausmalungen von Künstlerhäusern schreiben
regelmäßig dem Künstler eine Fülle von
Tugenden zu, die er besitzen soll, damit er zu Ruhm und Ehre
gelangt. Allerdings unterscheidet sich dieser
»Tugendkanon« nur geringfügig von dem der
Dichter und Gelehrten und anderer Intellektueller. Dagegen
vernachlässigen diese Darstellungen oft darzulegen, was
denn die spezifische virtus des Künstlers
ausmacht. Eine erste Antwort auf diese Frage gibt der wenig
bekannte, zwischen 1519 und 1523 gemalte Zyklus des Domenico
Beccafumi im Palazzo Venturi in Siena. Er zeigt u.a. in acht
Deckenfresken berühmte Exempla römischer und
griechischer Helden, die sich durch ihre Tugend
ausgezeichnet haben. Alle gezeigten Beispiele entstammen dem
bekannten Handbuch des Valerius Maximus.
Es muß verwundern, unter diesen Helden nun auch
einen Maler zu finden, nämlich Zeuxis, der das Bild der
Helena malt – eine Episode, die Valerius Maximus nicht
schildert. Die Tugend, für die er hier steht, ist das
Selbstvertrauen, fiducia sui. Ausgehend von diesem
Beispiel untersucht der Beitrag weitere Fälle
bildlicher Darstellungen – von Daniele da
Volterra bis Rembrandt –, in denen Künstler
der Überzeugung bildlich Ausdruck verliehen haben,
daß eine wesentliche Tugend das Selbstvertrauen in die
eigenen Fähigkeiten ist, mittels dessen der
Künstler sich die Freiheit
– licentia – nimmt, von den
lehr- und lernbaren Regeln der Kunst abzuweichen.
[nach oben / to the top]
Thomas Weigel:
Tintoretto und das Non-finito
Die zeitgenössische Kritik am Schaffen Jacopo
Tintorettos konzentrierte sich neben anderen Aspekten
besonders auf das Phänomen des scheinbaren
Non-finito vieler seiner Werke. Dieser vermeintliche
Mangel wurde als eklatanter Verstoß gegen
überlieferte Prinzipien
handwerklich-künstlerischer Berufsausübung
verstanden. Das Manko erschien im konkreten Fall um so
unverzeihlicher, als nicht mindere Begabung, sondern
vielmehr Raffgier und daraus resultierende Übereilung
beim Malprozeß als Ursachen des Mißstandes
ausgemacht wurden. Schon Vitruv und ihm folgend Ghiberti und
Alberti hatten avaritia als eines der Hauptübel
bezeichnet, welches der Künstler zu meiden habe.
Gleichzeitig verdankte sich die Empfehlung Albertis und
anderer Kunsttheoretiker zur Anwendung einer diligenza
moderata in der technischen Ausführung dem
Einfluß der aristotelischen Tugendlehre, welche die
Einhaltung des Goldenen Mittelweges zwischen zwei Extremen
zum Prinzip tugendhaften Handelns erklärt hatte.
Daß die im einzelnen angeführten
ästhetischen Urteile nicht auf Idiosynkrasien oder
beschränkter Urteilsfähigkeit beruhten, sondern
auf ethischen Normen gründeten und mithin das sittliche
Subjekt des Künstlers und seine Tugend insgesamt
betrafen, ist folglich nicht von der Hand zu weisen.
Anhand konträrer Werturteile mit Bezug auf dasselbe
Phänomen ließ sich aber auch zeigen, daß
veränderte kunsttheoretische Anforderungen und
gewandelte soziopolitische Verhältnisse zu einer
positiven Einschätzung desselben Sachverhalts
führen konnten. Zu diesen Faktoren zählt unter
anderem die neue Wertschätzung einer gewissen
sprezzatura und Ungezwungenheit, die sich im
souveränen Pinselduktus geltend macht und die
– vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen
Nobilitierung der Malkunst – als Äquivalent
zu höfischen Verhaltensformen verstanden werden konnte.
Nicht zuletzt ökonomische Kriterien haben
– mehr oder minder verdeckt – eine
Rolle im betreffenden Diskurs gespielt. Aber auch die
kunsttheoretische Forderung nach vivacità und
Unmittelbarkeit der Affektübertragung, welche allein
die alte rhetorische Aufgabe des movere effektiv
erfüllen könne, sind in diesem Zusammenhang
anzuführen. Über die Produzent-Produkt-Perspektive
hinaus führte die Erweiterung des Kriterien-Spektrums
um die Kontext- und Rezipientenrelation ebenfalls zu einer
günstigeren Einschätzung des Befundes, indem unter
Berücksichtigung dieser die Wahrnehmung der Kunstwerke
konditionierenden Bedingungen der Blick auf das jeweils
Erforderliche und Angemessene gerichtet werden konnte, dem
ein scheinbares Non-finito je nach Umständen
durchaus zu genügen vermag.
Last but not least trug die neue
Wertschätzung des Individuums mitsamt all seinen
unverwechselbaren Eigenschaften dazu bei, den Einfluß
des spezifischen Temperamentes auf die Malweise zu
akzeptieren oder sogar zu honorieren, weshalb denn
Tintorettos – der handwerklichen Sorgfalt
scheinbar entgegengesetzte – prestezza in
der Malweise auch durch sein gesamtes Wesen und insbesondere
durch das rapide Operieren seines Intellekts gerechtfertigt
scheinen konnte, wobei gerade diese Züge seiner
individuellen Begabung seiner virtù und nicht
mehr einer vernachlässigten Ausbildung zugerechnet
werden konnten. Insgesamt erweist sich der Blick auf das
Phänomen des Non-finito als äußerst
fruchtbar zum Verständnis der Anforderungen an die
virtus eines cinquecentesken venezianischen Malers im
Spannungsfeld zwischen Ethik und Ästhetik.
[nach oben / to the top]
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