Zum Inhalt:
Das Problem der Konstituierung sozialer Ordnung bildet
eine der Grundfragen der historischen Kulturwissenschaften.
Dabei lautet die Frage weniger, ob soziale Ordnung
möglich ist, als vielmehr wie sie möglich
ist. In diesem Sinne fragen auch die Autoren des
vorliegenden Bandes, wie in unterschiedlichen historischen
Situationen soziale Ordnungsmuster etabliert, umkämpft
und behauptet wurden. Als gemeinsamer Ausgangspunkt gilt
zudem die Annahme, daß Ordnung nicht eine quasi
ontologische, immer schon gegebene Realität
repräsentiert, sondern zu jeder Zeit erst durch die
jeweiligen Akteure hergestellt werden muß. Dabei
scheint es ein besonderes Charakteristikum der Vormoderne zu
sein, daß Konzeptionen sozialer und gesellschaftlicher
Ordnung in räumliche Arrangements umgesetzt wurden.
Soziale Gruppen und Stände fanden einen festen Ort in
räumlichen Ordnungsmodellen, in denen gesellschaftliche
Hierarchien über verschiedene räumliche
Leitdifferenzen wie oben/unten, links/rechts oder
innen/außen symbolisiert werden konnten. Die
Diskrepanz zwischen normativen Ordnungsentwürfen, also
vor allem der Idee einer umfassenden räumlichen
Verortbarkeit aller sozialen Gruppen und Individuen, und den
konkreten Verhältnissen produzierte jedoch in der
Praxis immer wieder soziale Konflikte. Durch Konflikte
konnte die gesellschaftliche Ordnung gestört,
ausgehandelt, wiederhergestellt und letztlich immer wieder
neu definiert werden. In diesem Sinne folgen die
Beiträge der methodischen Prämisse, daß
gerade Ordnungsstörungen in besonderem Maße dazu
geeignet sind, die impliziten Regeln, Geltungsbedingungen
und Konstruktionsprinzipien einer Ordnung zu
erschließen. Aus verschiedenen disziplinären
Perspektiven wird aufgezeigt, wie gesellschaftliche
Ordnungen als räumliche Metaphern vorgestellt, in
Konflikten verarbeitet, ständig modifiziert und
schließlich in die imaginären wie in die
konkreten sozialen Räume eingeschrieben wurden.
Die Autoren und ihre Beiträge:
Marian Füssel / Stefanie Rüther:
Einleitung
Christiane Witthöft:
Symbolische Raumordnung in der Literatur des Mittelalters
– Zum gedranc als Raumkonstituente im
»Frauendienst« Ulrichs von Liechtenstein
Susanne Höfer:
Zur räumlichen Makrostruktur der adeligen Lebenswelt
im »Welschen Gast« des Thomasin von
Zerklaere
Heike Bierschwale / Oliver Plessow:
Schachbrett, Körper, Räderwerk –
Verräumlichte Gesellschaftsmetaphorik im
Spätmittelalter
Ingmar Krause:
»... hinc principum discordia, nescio quando nisi
illis obeuntibus conponenda?« – Bemerkungen zur
Beilegung von Konflikten im
westfränkisch-französischen Reich
(10.–12. Jahrhundert)
Stefanie Rüther:
Von der Macht, vergeben zu können –
Symbolische Formen der Konfliktbeilegung im späten
Mittelalter am Beispiel Braunschweigs und der Hanse
Christoph Dartmann:
Furor – Konfliktpraktiken und
Ordnungsvorstellungen im kommunalen Siena
Antje Flüchter:
Pastor Lauffs und die Frauen – Sexualität und
Konflikt in einer frühneuzeitlichen Gemeinde
Marian Füssel:
Rang und Raum – Gesellschaftliche Kartographie und
die soziale Logik des Raumes an der vormodernen
Universität
Thomas Weller:
Ius subselliorum templorum –
Kirchenstuhlstreitigkeiten in der frühneuzeitlichen
Stadt zwischen symbolischer Praxis und Recht
Rüdiger Schmidt:
Die Eroberung des revolutionären Raums: Paris im
Revolutionszeitalter
Näheres zu den Beiträgen:
Christiane Witthöft:
Symbolische Raumordnung in der Literatur des Mittelalters
– Zum gedranc als Raumkonstituente im
»Frauendienst« Ulrichs von Liechtenstein
Ausgehend vom Frauendienst Ulrichs von
Liechtenstein stellt der Beitrag Fragen über die den
fiktionalen Texten inhärente Raumsymbolik. Der
Frauendienst zieht die räumlichen
Begebenheiten von Nähe und Distanz als
Konstruktionselement einer fiktiven Gesellschaft stark
heran.
Neben den architektonischen Räumen, die Nähe
erfordern und somit symbolisch aufgeladen sind
(Kirchenportale, Fensternischen), fordern auch
Ritualhandlungen die sichtbare Anwesenheit der Akteure auf
engstem Raum sowie ein Publikum, welches den aktiven Rahmen
bzw. die Bühne bildet.
Als besonderes Element der Raumgestaltung wird das
gedranc hervorgehoben. Der Protagonist Ulrich
wird zumeist von einer Raumdichte begleitet, die
das Zentrum der Handlung anzeigt und als Textsignal die
Aufmerksamkeit der Rezipienten lenkt.
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Susanne Höfer:
Zur räumlichen Makrostruktur der adeligen Lebenswelt
im »Welschen Gast« des Thomasin von
Zerklaere
Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen die
räumlichen Strukturen des Welschen Gastes,
den Thomasin von Zerklaere 1215/16 als Lebens- und
Wissenslehre für den höfischen Adel konzipierte.
Anhand zweier Bereichen wird exemplarisch beleuchtet, wie
diese erste umfassende deutschsprachige Didaktik die
Wahrnehmung der Wirklichkeit und damit auch die
Handlungsmuster der Rezipienten über räumliche
Strukturvorgaben im Zusammenhang von Text und Illustration
zu beeinflussen sucht.
Als erstes wird aufgezeigt, wie
Thomasin als Voraussetzung gelingender Kommunikation die
Distanz zwischen sich und seinen Adressaten in der
Kombination geographischer, metaphorischer und sozialer
Raumkonstruktionen zu überbrücken versucht. In
einem zweiten Schritt wird die Darstellung
gesamtgesellschaftlicher Ordnung(en) untersucht, die
ebenfalls im Verbund geographischer, metaphorischer und
sozialer Räume als makrostrukturelle
Wahrnehmungsvorgaben der Vermittlung zentraler Inhalte
seiner Lehre dienen.
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Heike Bierschwale / Oliver Plessow:
Schachbrett, Körper, Räderwerk –
Verräumlichte Gesellschaftsmetaphorik im
Spätmittelalter
Die tugenddidaktische Literatur des Mittelalters ist
bestrebt, die Menschen ihrer Zeit für eine tugendhafte
Ausgestaltung ihres Lebens in dieser Welt zu gewinnen. Sie
bildet damit eine Schnittstelle zwischen der Reflexion
über Werte und dem tatsächlichen Handeln. Einige
Texte entwickeln dabei symbolische Modelle, anhand derer der
Mensch sich selbst und seine Welt erklärt. Nutzen
solche Sozialmetaphern die Möglichkeiten der
Semantisierung räumlicher Komponenten? Entspricht die
räumliche Gestaltung von Metaphern der sozialen Ordnung
– und dient sie der Wahrnehmung von Hierarchien? Wie
verhält es sich mit dem eigenen Ausgestaltungspotential
der Bilder? Diesen Fragen wird anhand dreier populärer
Beispiele nachgegangen, bei denen die Bildlichkeit die
Aufteilung der Tugenden auf die einzelnen Stände bzw.
gesellschaftlichen Gruppen leistet: Es sind dies die
Metapher des Schachbretts als Modell der Gesellschaft im
Gefolge des Liber de ludo scaccorum des Jacobus
de Cessolis, die traditionsreiche Analogie vom Staat als
Organismus, die Johannes Rothe in seinem ersten Ratsgedicht
auf die Verhältnisse der mittelalterlichen Stadt
übertragen hat, sowie die Metapher vom
Räderwerk, mit deren Hilfe Hermen Bote ein
ständisch differenziertes Strukturmodell des ganzen
Reichs entwarf.
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Ingmar Krause:
»... hinc principum discordia, nescio quando nisi
illis obeuntibus conponenda?« – Bemerkungen zur
Beilegung von Konflikten im
westfränkisch-französischen Reich
(10.–12. Jahrhundert)
Im Spannungsfeld des Ablösungsprozesses der
karolingischen Herrscher durch die Kapetinger und der
Konstituierung einer gesellschaftlichen Ordnung, die von der
historischen Forschung mit den Begriffen anarchie
féodale, mutation féodale oder ordre
seigneurial bedacht worden ist, untersucht der Beitrag die
Beilegungen der sich innerhalb der
westfränkisch-französischen Herrschaftsschicht
artikulierenden Konflikte. Er behandelt dabei im einzelnen
die Fragen nach der Dauerhaftigkeit, den inhaltlichen
Bestimmungen und den an den Konflikten und
Friedensschlüssen beteiligten Protagonisten. Er zeigt,
daß die Beilegung der auf den ersten Blick recht
willkürlich anmutenden Konflikte einer rationalen Logik
unterlag, die deren Beendigung in vielen Fällen
dauerhafter als bisher zumeist angenommen regelte, weil die
Protagonisten der Konflikte nicht einfach stets summarisch
als geschlossene Parteiungen begriffen wurden und sich die
Inhalte der Frieden zugleich nicht stets auf eine allgemeine
Regelung des gegenseitigen Verhältnisses bezogen.
Vielmehr stellten die gefundenen Lösungen häufig
nur die Regelung eines eher begrenzten Problemfeldes
dar.
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Stefanie Rüther:
Von der Macht, vergeben zu können –
Symbolische Formen der Konfliktbeilegung im späten
Mittelalter am Beispiel Braunschweigs und der Hanse
Den gesellschaftlichen Akteuren des Spätmittelalters
standen verschiedene Optionen zur Verfügung, um
Konflikte beizulegen und den gesellschaftlichen Konsens
wiederherzustellen. Dabei konnte rituelles Handeln, wie eine
öffentliche Unterwerfung, ebenso ein geeignetes Mittel
sein, um Genugtuung zu leisten und die Wiederherstellung der
Ordnung anzuzeigen, wie ein schriftlich festgehaltener
Vertrag, in dem entsprechende Ausgleichsleistungen
festgelegt wurden. Im Mittelpunkt des Beitrags steht daher
die Frage, unter welchen sozialen Bedingungen die jeweiligen
spezifischen Formen der Konfliktbeilegung zur Anwendung
gebracht wurden. Am Beispiel der Unterwerfung Braunschweigs
vor den Vertretern der Hanse kann gezeigt werden, daß
die Regeln der Konfliktführung, wie die Institutionen
der Vermittlung, der Schiedsgerichtsbarkeit und die
Möglichkeiten einer gütlichen Konfliktbeilegung
durch Unterwerfung und Sühnevertrag nicht immer und
unverändert ihre Wirkung entfalten konnten. Die
hansische Gemeinschaft besaß am Ende des
14. Jahrhunderts im norddeutschen Raum ein solches
Gewicht, daß ihr die Aufgabe zugetragen wurde,
innerstädtische Konflikte zu vermitteln und zu
entscheiden. Damit trat sie zumindest vorübergehend an
die Stelle der Landes- und Stadtherren, die aufgrund der
mangelnden Autorität ihrer Rolle als Richter und
Friedensstifter zu dieser Zeit nicht mehr gerecht werden
konnten. Eine genaue Analyse der verschiedenen Regelungen in
den Sühneverträgen und des Aktes der Unterwerfung
der Braunschweiger macht deutlich, wie differenziert man auf
die spezifischen Störungen und Verletzungen der
geltenden Ordnung zu reagieren vermochte. Gleichwohl
unterlagen die Praktiken der gütlichen
Konfliktbeilegung bestimmten Erwartungshaltungen, die es
ermöglichten, das Geschehene in der Erinnerung
umzuformen und verschieden auszudeuten.
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Christoph Dartmann:
Furor – Konfliktpraktiken und
Ordnungsvorstellungen im kommunalen Siena
Konfliktpraktiken und kommunale Ordnungsvorstellungen
divergierten im spätmittelalterlichen Siena deutlich.
Auf der Basis chronikalischer Quellen des 13. und
14. Jahrhunderts läßt sich konstatieren,
daß die Interaktion auf den Straßen Sienas rasch
zu gewalttätigen Auseinandersetzungen eskalieren
konnte. Während die einschlägige Forschung vor
allem nach politischen und sozialen Ursachen der Konflikte
gefragt hat, setzt der vorliegende Beitrag bei den
Abläufen innerer Unruhen an; die Konfliktpraktiken
waren weitgehend unabhängig davon, ob es sich um einen
Angriff auf die Kommunalregierung handelte oder um andere
Auseinandersetzungen. In beiden Fällen sah sich die
Leitung der Stadtgemeinde herausgefordert, den Frieden
wieder herzustellen, ohne mit diesen Versuchen
zwangsläufig auf die Akzeptanz der Bürger der
Stadt zu stoßen. Vielmehr sahen sich die Vertreter der
Regierung in vielen Fällen genötigt,
Widerständen nachzugeben oder die eigenen
Ordnungsvorstellungen mit Gewalt durchzusetzen. In Berichten
aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wird
deutlich, daß das demonstrative Zerstören von
Schriftstücken auf kommunale Macht zielt;
öffentliche Inszenierungen von Schriftstücken
konnte im Dienste einer Legitimierung kommunaler Regierung
eingesetzt werden. Die Nutzung und die Kontrolle des
Geschriebenen wurde also offenbar eng mit dem Anspruch
legitimer Machtausübung durch die Kommune
verbunden.
In einer gewissen Spannung zu den Konfliktpraktiken stehen
die Ordnungsvorstellungen, wie sie die Fresken Ambrogio
Lorenzettis in der Sala della Pace des Palazzo Pubblico
visualisieren. Einerseits handelt es sich, anders als Chiara
Frugoni vermutet, nicht um reine Ideologie, weil die
Kommunalregierung bemüht war, durch strenges Richten
Frieden und Gerechtigkeit herzustellen. Andererseits
läßt sich die Praxis nicht auf das einfache
binäre Schema reduzieren, das die Fresken vor Augen
führen, in denen Dissens, Gewalt und Konflikt allein im
Kontext der Tyrannei erscheinen.
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Antje Flüchter:
Pastor Lauffs und die Frauen – Sexualität und
Konflikt in einer frühneuzeitlichen Gemeinde
Konflikte gehören zum Alltag vormoderner Gemeinden,
Konflikte entstehen, wenn Ordnung gestört worden ist.
Ende des 17. Jahrhunderts versuchte die
jülich-bergische Gemeinde Bilk die Absetzung ihres
Pfarrers Wilhelm Lauffs zu erreichen, nachdem dieser
sexuelle Beziehungen zu seinen Mägden, zu Ehefrauen
seiner Gemeinde und einer Prostituierten gehabt hatte. Der
vorliegende Aufsatz untersucht, welche Rolle Sexualität
im Allgemeinen und die Übertretung des
Zölibatgebotes im Besonderen in diesem Konfliktfall
spielte und welche Ordnung gestört worden war. Er geht
den verschiedenen Argumentationsmustern nach, die die
Gemeinde gegenüber den Visitatoren bezüglich der
drei Gruppen von Frauen verfolgte. Dabei ergab sich,
daß die Gemeinden zum einen sehr strategisch
argumentierte; hier hatte keine obrigkeitlich gesteuerte
Sozialdisziplinierung stattgefunden, sondern die
hinzugezogene weltliche Gerichtsbarkeit war im Sinne der
Gemeinde instrumentalisiert worden. Zum anderen scheint die
sexuelle Aktivität des Pastoren in den Augen der
Gemeinde wenig problematisch gewesen zu sein, der
Zölibat als zentrale Norm der tridentinischen Reform
war also nicht internalisiert worden. Der Pastor hatte durch
sein Verhalten weniger die Ordnung der
Sexualität verletzt, sondern vor allem durch
seine Versuche, Frauen der Gemeinde zum Ehebruch zu
verführen, die ökonomische und soziale Ordnung der
Hausgemeinschaft wie der Gesamtgemeinde gestört. Diese
Störung hatte zum Konflikt und schließlich zur
Entsetzung Pastor Lauffs geführt. Beurteilung wie
Argumentationsstruktur der Gemeinde sind in den drei
Beziehungsgruppen (Mägde, Ehefrauen, Prostituierte) so
verschieden, daß es überhaupt fraglich ist, ob
von einer einheitlichen Ordnung der
Sexualität gesprochen werden kann.
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Marian Füssel:
Rang und Raum – Gesellschaftliche Kartographie und
die soziale Logik des Raumes an der vormodernen
Universität
Ziel des Beitrags ist die Rekonstruktion der vormodernen
Universität als einer symbolischen Ordnung, in der sich
die Geltungsansprüche gegenüber anderen Individuen
und Gruppen in einer Sprache symbolischer Praktiken zum
Ausdruck brachten. Ausgehend von der Frage nach der
Bedeutung der Dimension Raum für die Konstitution und
Wahrnehmung sozialer Rangordnungen und Hierarchien, werden
die unterschiedlichen Anlässe beleuchtet, die im
Bereich der Universitäten als Bühne zur
symbolischen Manifestation gesellschaftlicher Ordnung
dienten.
Indem die Ordnung des Raumes hier sowohl in ihrer
kognitiven wie sozial distinktiven Dimension in den Blick
genommen wird, eröffnen sich neue Einsichten in die
spezifische Logik unterschiedlicher Medien sozialer
Distinktion. In den Sitzordnungen und Prozessionen des
akademischen Zeremoniells wurde die soziale Ordnung jedoch
nicht bloß abgebildet, sondern stets aufs neue in
actu konstituiert. Ein Vorgang, der Anlass zu
zahlreichen Konflikten um den richtigen Platz gab, so dass
Raum und Konflikt stets eine enge Verknüpfung
miteinander eingingen.
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Thomas Weller:
Ius subselliorum templorum –
Kirchenstuhlstreitigkeiten in der frühneuzeitlichen
Stadt zwischen symbolischer Praxis und Recht
Weitaus stärker als moderne Gesellschaften war die
frühneuzeitliche Ständegesellschaft auf die
ständige Visualisierung ihrer selbst angewiesen. So
galt auch der Platz in der Kirche stets als Indikator
für den sozialen Rang und Status des Platzinhabers. Die
Sitzordnung stellte aber zumindest in den
frühneuzeitlichen Städten bei näherem
Hinsehen keineswegs ein getreues Abbild der
sozialen Rangverhältnisse dar, letztere wurden vielmehr
in der sozialen Praxis stets aufs Neue hergestellt bzw.
symbolisch erzeugt. Der Platz des Einzelnen innerhalb der
gesellschaftlichen Ordnung stand also nie unverrückbar
fest, sondern war stets Ergebnis und Gegenstand von
Aushandlungsprozessen und symbolischen Kämpfen. Diese
verliefen häufig gewaltförmig. Nicht immer aber
zogen sich die Streitenden an den Haaren, drängten sich
gegenseitig aus den Bänken oder beschimpften sich
unflätig. Charakteristisch für
Kirchenstuhlstreitigkeiten wie auch für andere Formen
der Auseinandersetzung um sozialen Rang in der Frühen
Neuzeit war vielmehr zugleich eine zunehmende Tendenz, die
Konflikte mit den Mitteln des Rechts auszutragen. Um die
Mitte des 17. Jahrhunderts entwickelte sich ein
eigenständiger rechtsgelehrter Diskurs, das Ius
subselliorum templorum, das sich ausschließlich
mit den Besitz- und Nutzungsrechten an Kirchenstühlen
beschäftigte. Dies blieb für die Praxis der
Auseinandersetzungen nicht ohne Folgen. Gleichwohl erwies
sich das Recht bis ins 19. Jahrhundert als weitgehend
untaugliches Instrument, um die Konflikte einzudämmen.
Weder die zahllosen von den Obrigkeiten erlassenen
Kirchenstuhlordnungen noch die Flut an rechtgelehrter
Literatur, von der Dissertation bis zum leicht
verständlichen Kompendium für geplagte
Dorfpfarrer, führten zu einem Rückgang der
Auseinandersetzungen. Der von allen Instanzen
bestätigte, rechtlich abgesicherte Anspruch auf einen
Kirchenstuhl alleine reichte meist nicht aus, es galt
vielmehr den beanspruchten Platz auch tatsächlich bei
jedem Gottesdienstbesuch stets aufs Neue physisch
einzunehmen. In einer Vielzahl von Fällen lässt
sich ein Nebeneinander von justizförmigen und
nichtjustizförmigen Mitteln der Konfliktführung
beobachten. Indem die Bemühungen der
zeitgenössischen Juristen die Probleme offenbar
zunächst eher verschärften, zu deren Lösung
sie beitragen wollten, trugen sie aber auf lange Sicht wohl
ungewollt dazu bei, dass sich die kollektive Vorstellung
einer streng hierarchisch gegliederten gesellschaftlichen
Ordnung, in der jedem ein fester Platz zukam,
allmählich verflüssigte. Erst dies nahm auch den
Auseinandersetzungen um den Platz in der Kirche ihre
Schärfe und ihre existentielle Bedeutung für die
Zeitgenossen.
[nach oben / to the top]
Rüdiger Schmidt:
Die Eroberung des revolutionären Raums: Paris im
Revolutionszeitalter
Der hier vorgestellte Beitrag thematisiert die
Transformation raumsymbolischer Strukturen, Elemente und
Vorstellungen im revolutionären Paris zunächst am
Beispiel der Bastille und des Louvre und der symbolischen
Auf- bzw. Abwertung eines monarchischen und
revolutionären Zentrums. Im Rahmen der
revolutionären Politik übernahmen die
Festumzüge im städtischen Raum Aufgaben der
kulturellen Reproduktion und Integration und fungierten so
als eine Art Katalysator für jenen Wandel sozialer und
individueller Identitätserfahrungen, der in der
Sphäre der alltäglichen Lebenswelt auch durch die
»trikolore Kleiderordnung« zum Ausdruck gebracht
wurde. Solche spontanen Meinungs- und
Willensbildungsprozesse im öffentlichen Raum
korrespondierten mit den Lenkungsfunktionen einer
Verwaltung, die im Zuge der revolutionären Umbenennung
von Straßen die Imperative revolutionärer
Didaktik bestandssichernder Institutionalisierung unterwarf.
Die Leitidee, auf diese Weise republikanische Werte und
Prinzipien auch visuell zu vermitteln, wurde darüber
hinaus – dieser Aspekt soll hier abschließend
behandelt werden – im Konzept der
Revolutionsarchitektur zum Ausdruck gebracht, die die
Strukturen der neuen Ordnung ästhetisch integrierte und
erfahrbar machte.
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Rezensionen:
»Eine breitere Rezeption wäre dem Band in der Tat zu wünschen.«
Ralf-Peter Fuchs, in: Beiträge zur
Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 128,
Heft 2 (2006), S. 330–332.
* * *
Thomas Wetzstein, in: Historische Zeitschrift 283, Heft 1 (2006), S. 136f.
* * *
Susanne Rau, in: Zeitschrift für historische Forschung 33, Heft 4 (2006).
* * *
Westfälische Forschungen. Zeitschrift des westfälischen
Instituts für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes
Westfalen-Lippe 2006.
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