Kurzzusammenfassung / short summary:
(Siehe
auch das PDF mit ausgewählten Originalseiten aus dem Buch/
also see the PDF with selected original pages from the book)
In der Auseinandersetzung mit dem Oeuvre des
zeitgenössischen Künstlers Alfred Hrdlicka
scheiden sich die Geister. Zeit seines Schaffens geht der
Wiener auf die Barrikaden – gegen Krieg, gegen
Unterdrückung, gegen Machtmissbrauch. Seine Werke
schöpfen aus dem gigantischen Repertoire von
Ereignissen aus Geschichte und Gegenwart und zeigen
besondere Leidenschaft zur rücksichtslosen Entlarvung.
Hrdlickas Bildersprache ist zwar gegenständlich, aber
alles andere als einfach zugänglich – sie
irritiert, verstört, sie rüttelt auf und mahnt
– und kennt kein Tabu.
Die 30 Arbeiten, die sich im Besitz der
Westfälischen Wilhelms-Universität befinden,
zeigen einen beispielhaften Ausschnitt dieses Schaffens.
Thematische Schwerpunkte der universitären Sammlung
bilden die 13 Zeichnungen der Serie Die
Wiedertäufer (1993 und 1997) und die Arbeiten des
Druckzyklus Wie ein Totentanz – die Ereignisse des
20. Juli 1944 (1974).
Diese Publikation widmet sich dem Anliegen, die ebenso
außergewöhnliche wie umstrittene Sammlung dem
kritischen Publikum näher zu bringen, indem sie die
exzessiven und gewaltgeladenen Darstellungen
entschlüsselt und kommentiert. Die Ästhetik des
Grauens, der sich Alfred Hrdlicka offensichtlich
verschrieben hat, übt ihre eigene Faszination aus, der
sich die Autoren aus Perspektive verschiedener
wissenschaftlicher Disziplinen zu nähern versuchen.
Aus dem Inhalt / from the book:
(Siehe
auch das PDF mit ausgewählten Originalseiten aus dem Buch/
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Jürgen Schmidt:
Vorwort
Jürg Meyer zur Capellen:
Einführung
Peter Johanek:
Die Wiedertäufer und wir –
Historische Betrachtungen
Walter Schurian:
Im Laufrad der Geschichte –
Zu Alfred Hrdlickas Zyklus »Die Wiedertäufer«
Konrad Paul Liessmann:
Der hässliche Mensch –
Ästhetische Streifzüge durch das entstellte Gesicht
Daniela Winkelhaus-Elsing:
Provokation oder Illustration?
Erläuterndes zu den »Wiedertäufern«
Christine Pielken:
Der Mensch ist des Menschen Tod –
Zur Hrdlicka-Druckgraphiksammlung der Universität
Anhang:
Katalog
Kurzbiographie Alfred Hrdlicka
Abbildungsnachweis
Auszüge aus den Beiträgen / excerpts from the articles:
(Siehe
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Jürg Meyer zur Capellen:
Einführung
Alfred Hrdlickas Zyklus von Zeichnungen zum Thema der
Münsteraner Wiedertäufer (1993/97) ist seit 1999
im Schloss zu Münster zu sehen, dem Sitz des Rektorates
und eines Teils der Verwaltung der Westfälischen
Wilhelms-Universität. An einem zugänglichen Ort
und dennoch ein wenig abgelegen hat dieser Zyklus kaum die
Beachtung einer größeren Öffentlichkeit
erfahren. Wenn sich Reaktionen erkennen ließen, so
waren diese häufig von Ablehnung, zumindest aber von
einer tiefen Irritation gekennzeichnet. Es sind insbesondere
die Darstellungen der rohen Gewalt, mehr noch jene der
sexuellen Ausschweifung oder gerade die Verbindung von
beiden, welche Unverständnis und Ablehnung
hervorriefen. Hier genügt nicht der Hinweis darauf,
dass sich der Zyklus zu den Wiedertäufern nahtlos in
das graphische Werk von Hrdlicka einfügt und dass
diesem in Fachkreisen eine hohe künstlerische Bedeutung
zuerkannt wird. Auch hilft kaum der Verweis, dass die Zeit
der Wiedertäufer in Münster in hohem Maße
durch Exzesse dieser Art gekennzeichnet war. Zum
Verständnis ist es vielmehr nötig, diesen Zyklus
einer genaueren Betrachtung zu unterziehen und ihn in seinen
historischen und künstlerischen Kontext zu stellen.
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Peter Johanek:
Die Wiedertäufer und wir –
Historische Betrachtungen
Auf den 20. Mai 1534, also heute vor 465 Jahren, hatte
Bischof Franz von Münster aus dem Hause Waldeck den Beginn
der Beschießung der Stadt Münster angesetzt, in der die
Täufer ihre Herrschaft errichtet hatten und das Gottesreich
ihrer Vorstellung zu verwirklichen suchten. Die Belagerung
Sions durch den apokalyptischen Drachen setzte nun im Ernst
ein. Zu Jahresanfang waren die ersten Taufen durch die
niederländischen Melchioriten erfolgt, keine drei Monate
zuvor, am 23. Februar, war die legale Machtergreifung der
Täufer bei der Ratswahl erfolgt, etwa sechs Wochen war es
her, dass an Ostern der Prophet Jan Mathijs aus der Stadt in
den Tod gegangen war. Etwa vier Wochen später, am 16. Juni,
wird Hille Feicken aus der Stadt gehen, köstlich angetan, um
als eine andere Judith den Bischof zu töten, und sie wird
dabei scheitern. Am 31. August, also etwa nach einem
weiteren Vierteljahr, werden die Täufer den Sturm der
Belagerer abschlagen und Anfang September Jan van Leiden zum
König des neuen Sion erheben. Dann, während des Winters,
wird der Hunger kommen, und am 24. Juni, in der
Johannisnacht 1535 wird alles zu Ende sein. Die
bischöflichen Truppen erobern die Stadt, Überläufer haben
ihnen den Weg gewiesen und die Tore geöffnet, und wiederum
etwas über ein halbes Jahr später am 25. Jänner 1536 werden
die gefangenen Anführer der Täufer – Jan van Leiden, Bernd
Krechting und Bernd Knipperdolling – auf dem Prinzipalmarkt
hingerichtet, mit glühenden Zangen zu Tode gemartert und
erdolcht.
(Dr. Johanek ist seit 1985 Professor (heute em.)
für Westfälische Landesgeschichte und
mittelalterliche Geschichte und Direktor des Instituts
für vergleichende Städtegeschichte an der
Universität Münster. Der hier abgedruckte Text
gibt den Vortrag wieder, den er am 20. Mai 1999 bei der
Übergabe des Zyklus »Die Wiedertäufer«
von Alfred Hrdlicka an die Westfälische
Wilhelms-Universität in der Aula des Schlosses zu
Münster gehalten hat. Die situationsbezogene Form des
Beitrages wurde beibehalten. Auf Anmerkungen wird
verzichtet, und es sei lediglich auf einige grundlegende
Literaturtitel verwiesen, die auch den Weg zu den Zitaten im
Text erschließen.)
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Walter Schurian:
Im Laufrad der Geschichte –
Zu Alfred Hrdlickas Zyklus Die Wiedertäufer
In seinem Zyklus von Zeichnungen zum Thema
Wiedertäufer hat Alfred Hrdlicka ein Sujet gefunden und
eindrücklich verarbeitet, das ihn im wesentlichen seit
den Anfängen seiner künstlerischen Entwicklung
immer wieder und zentral beschäftigt hat: Die
ästhetische Umsetzung, das Darstellen und das
künstlerische Aufzeigen der unterschiedlichen
Verlaufsformen aller Arten von politischen, religiösen
und weltanschaulichen Ideologien in der Wirklichkeit.
Einzeln, sozial, global – immer und überall.
Wie im Fall der Wiedertäufer in Münster um
1530, geht es diesem Künstler um die Möglichkeit
einer ästhetischen Verarbeitung und einer Ansicht von
einer tatsächlichen Verwirklichung einer Weltanschauung
– der Verwirklichung einer Idee, einer Vision, einer
Vorstellung, einer chiliastischen und eschatologischen
Heilslehre. Kurz: Es geht um Ideologie und um Religion und
deren Auswirkungen auf reale und, wie in diesem
singulären Fall, auf eine in die Tat umgesetzte
Politik, welcher zwar zeitlich keine allzu lange Dauer
beschieden war, die aber dennoch als historisch und auch als
historisch einmalig eingeordnet werden muss. Ernst Bloch
meint dazu: »Niemals hat die Menschheit Tieferes
gewollt und erfahren als in den Intentionen dieses
Täufertums, hin zur mystischen Demokratie.«
(Die Idee zum Zyklus »Die Wiedertäufer«
geht unter anderem zurück auf die Zusammenarbeit und
die Freundschaft des Künstlers mit dem Autor.
Dr. Schurian war von 1973 bis 2003 als Professor am
Institut für Allgemeine und Angewandte Psychologie der
Universität Münster tätig. Seiner Vermittlung
ist zudem nicht nur die Ausstellung der großformatigen
Werke »Metamorphose der Endlösung« (1974/75),
Alfred Hrdlicka, und »Aufruf zur Verteidigung der
persönlichen Freiheit« (1974–78), Rudolf
Hausner, im Schlossfoyer zu verdanken. Darüber hinaus
schenkte Prof. Schurian aus Anlass seiner Emeritierung
der Universität Münster 16 Druckgraphiken
Hrdlickas aus seinem privaten Besitz, die den
»Kunstraum Universität« entscheidend
bereichert haben.)
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Konrad Paul Liessmann:
Der hässliche Mensch –
Ästhetische Streifzüge durch das entstellte Gesicht
Unter dem Stichwort »Am häßlichsten«
notierte sich Friedrich Nietzsche in seiner ersten
Aphorismensammlung Menschliches, Allzumenschliches
einmal folgendes: »Es ist zu bezweifeln, ob ein
Vielgereister irgendwo in der Welt hässlichere Gegenden
gefunden hat, als im menschlichen Gesichte.« Zu diesem
scharfen Urteil korrespondiert eine persönlich
gehaltene Notiz vom Sommer 1883: »Jedesmal, daß
ich eine scharfe Brille aufsetze, wundere ich mich, wie
häßlich die Menschen sind und wie man es unter
ihnen aushält.« Solche Aversion gegen die
physische Präsenz von Menschen war bei Nietzsche nicht
nur Ausdruck einer Misanthropie, sondern in dem Angenehmen
oder Unangenehmen, das ein Gesicht, die Gestalt eines
Menschen auslösen kann, lag für ihn die Wurzel
aller Ästhetik. Das Schöne wie das Hässliche
ist eine an die Begegnung mit Menschen gebundene
Erfahrungsmöglichkeit, alle weitere ästhetische
Klassifizierung von Naturgegenständen oder Kunstwerken,
alle ästhetische Urteilskraft ist von dieser Erfahrung
abgeleitet.
Wie kaum ein Denker hat Nietzsche das Problem der
Hässlichkeit, jenseits aller allegorischen
Konnotationen und theoretischen Implikationen, auch als
Resultat einer unmittelbaren Erfahrung mit der menschlichen
Physiognomie gedeutet, von der sich die eigentlichen
ästhetischen Fragestellungen überhaupt erst
ableiten lassen. »Nichts ist schön, nur der Mensch
ist schön: auf dieser Naivetät (sic!) ruht alle
Aesthetik, sie ist deren erste Wahrheit. Fügen wir
sofort noch deren zweite hinzu: Nichts ist hässlich als
der entartende Mensch, – damit ist das Reich des
ästhetischen Urtheils umgrenzt,« schrieb Nietzsche
in der Götzen-Dämmerung und dokumentierte
damit, dass das ästhetische Urteil, zumindest wenn es
sich auf den Menschen bezieht, immer mehr ist als nur die
zum Ausdruck gebrachte Bewertung des Zusammenspiels jener
sinnlich relevanten Komponenten, die das Erscheinungsbild
eines Menschen dominieren. Einen Menschen hässlich zu
nennen, bedeutet mehr, als nur zu sagen, dass sein
Äußeres bestimmten ästhetischen Standards
nicht entspricht.
(Dr. Liessmann ist seit 1989 Professor am
Institut für Philosophie der Universität Wien. Der
hier abgedruckte Text geht zurück auf den gleichnamigen
Vortrag Prof. Liessmanns, den er im Rahmen der
Magdeburger Tagung »Im Schatten des Schönen, Die
Ästhetik des Hässlichen in historischen
Ansätzen und aktuellen Debatten« im März
dieses Jahres (27.–30. März 2003) gehalten
hat.)
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Daniela Winkelhaus-Elsing:
Provokation oder Illustration?
Erläuterndes zu den Wiedertäufern
Das umstrittene Werk des Österreichers Alfred
Hrdlicka sorgt seit jeher für kontroverse Diskussionen
und zwiespältige Reaktionen. So auch in Münster:
Seit 1999 hängen 13 Blätter der graphischen
Serie Die Wiedertäufer in den Fluren des
Schlosses, dem zentralen Sitz der Universität
Münster. Auf ganz direkte Weise werden Mitarbeiter der
Universitätsverwaltung, Lehrende, Studierende und
Besucher mit den zum Teil barbarischen Ereignissen der
Münsteraner Täuferherrschaft konfrontiert. Der
Betrachter ist in höchstem Maße gefordert, sich
mit den dramatischen Darstellungen auseinander zusetzen, die
nicht davor zurückschrecken Gewalt, Krieg,
Zerstörung und Sexualität in ihrer Brutalität
drastisch zu thematisieren.
Es ist daher nicht erstaunlich, dass die Aufnahme dieser
Werke recht unterschiedlich ausfällt. Wird der Ankauf
der Serie einerseits als mutiges »Statement« der
Universität zur zeitgenössischen Kunst bewertet,
stößt er andererseits auf völlige
Ablehnung.
Schon seit längerem besteht seitens der
Universität der Wunsch, diese
außergewöhnliche Graphik-Serie dem kritischen
Publikum näher zu bringen. Aufklärungsarbeit soll
der Katalog Alfred Hrdlicka. Ästhetik des
Grauens – Die Wiedertäufer leisten, der den
Zyklus eingehend beschreibt, erläutert und
interpretiert.
Es stellt sich die Frage, ob die Werke nur und
ausschließlich auf sensationslüsterne Provokation
ausgelegt sind. Tatsächlich ist das Werk Alfred
Hrdlickas ganz ausdrücklich auf Konfrontation
ausgerichtet, doch handelt es sich dabei nicht um das
einzige Anliegen des Künstlers. Betrachtet man das
Gesamtwerk des Österreichers, so zeigt sich, dass diese
drastische Art der Darstellung ein grundsätzliches
Charakteristikum seines künstlerischen Ausdrucks ist.
Die schonungslose Auseinandersetzung mit Politik, Geschichte
und insbesondere mit der eigenen Person ist Gegenstand
seiner Arbeiten, die gleichermaßen durch ihr
äußeres Erscheinungsbild wie durch ihre
inhaltliche Aussage schockierend sein können.
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Christine Pielken:
Der Mensch ist des Menschen Tod –
Zur Hrdlicka-Druckgraphiksammlung der Universität
Zur Überraschung vieler ist der
»Hrdlickabestand« an der Universität
Münster mit dem Wiedertäufer-Zyklus und der
Leihgabe des großformatigen Gemäldes
Metamorphose der Endlösung (1974/75) noch lange
nicht erschöpft. Denn im Februar dieses Jahres ist die
Sammlung durch eine private Schenkung um
16 druckgraphische Arbeiten des Künstlers
erweitert worden. Acht der Werke gehören der
Graphikserie Wie ein Totentanz. Die Ereignisse des
20. Juli 1944 an. Die weiteren sind graphische
Einzelarbeiten oder aus anderen Folgen extrahiert.
Der Zyklus Wie ein Totentanz. Die Ereignisse des
20. Juli 1944 entsteht im Jahr 1974 und umfasst
53 Arbeiten, dazu 11 Motivvariationen und
6 zusätzliche Blätter, die nicht in den
Verlauf des Zyklus integriert sind.
Er ist die bis dato umfangreichste Graphikfolge Hrdlickas,
die zudem durch ihre große Bandbreite der
druckgraphischen Mittel hervorsticht. Hrdlicka variiert
sowohl die Druckträger als auch die graphischen
Werkzeuge und Techniken. Im Verlauf der Episoden
korrespondieren verschiedene Formen der Kaltnadel-Radierung,
Schabblätter, Aquatinta- und Mezzotinto-Techniken auf
Kupfer und Ätzungen auf Zink miteinander.
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