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Stefan Wild

Mensch, Prophet und Gott im Koran

Muslimische Exegeten des 20. Jahrhunderts und das Menschenbild der Moderne

Gerda Henkel Vorlesung
in der Vortragsreihe »Das Menschenbild in der Wissenschaft«

Herausgegeben von der gemeinsamen Kommission der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der
Gerda Henkel Stiftung

2001, 54 Seiten, broschiert
2001, 54 pages, paperback

ISBN 978-3-930454-25-9
Preis/price EUR 9,20

16,5 × 24cm (B×H), 180g

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Zum Inhalt:

Der Koran ist seit seiner Entstehung im siebten nachchristlichen Jahrundert das Grunddokument der islamischen Religion und bis heute allgegenwärtiger Referenztext der vom Islam geprägten Kulturen. Als durch den Propheten vermitteltes, aber ungeschmälert göttliches Wort ist der Koran im radikalsten Sinn und Wort für Wort göttlich inspiriert. Der späteren islamischen Theologie gilt der Koran als ungeschaffenes Wort Gottes und daher als in jeder Hinsicht unüberbietbarer arabischer text. Der Beitrag stellt die Grundzüge der im Koran dokumentierten Selbstexplikation Gottes gegenüber dem Menschen Mohammed dar und referiert die theologischen und anthropologischen Dimensionen dieses Diskurses für die Moderne. Das Menschenbild moderner muslimischer Denker zeigt sich dabei als in besonderer Weise auf eine moderne Auslegung des koranischen Texts angewiesen. Gleichzeitig steht es häufig in Konkurrenz zu den säkularistischen Menschenbildern einer als westlich dominiert begriffenen Moderne. Hier liegen die Wurzel für die besonderen hermeneutischen Probleme zeitgenössischer islamischer Koranexegese und für bei uns kaum bekannte innermuslimische Auseinandersetzungen.


Zum Autor:

Geb. 1937 in Leipzig, Studium an den Universitäten München, Yale-University, Erlangen und Tübingen. Promotion (1961) und Habilitation (1968) an der Universität München im Fach Semitistik. Von 1968 bis 1973 Direktor des Orient-Instituts der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Beirut/Libanon. Von 1974 bis 1977 Professor für Semitische Sprachen und Islamwissenschaft an der Universität Amsterdam. Seit 1977 Professor für Semitische Philologie und Islamwissenschaft an der Universität Bonn. Herausgeber der Zeitschrift »Die Welt des Islams«. Hauptarbeitsgebiete: klassische arabische Literatur und Lexikographie; moderne arabische Literatur und Geistesgeschichte.


Besprechungen:

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.09.2001, Nr. 226 / Seite 58

Jeder Vers eine Offenbarung

Stefan Wilds Studie setzt den Gedanken voraus, daß »alle muslimische Exegese« sich »heute vor der Herausforderung der Moderne« sehe. »Darunter verstehe ich nichts weiter als die Notwendigkeit, eine Koranauslegung zu finden, die für die Probleme moderner Menschen relevant ist.« Dieser Satz wiegt schwer, denn mit ihm wird gefordert, daß ein einziger Text, der Koran, die Kluft zwischen den wenigen Muslimen im siebten Jahrhundert auf der saudiarabischen Halbinsel und den mehr als eine Milliarden Muslimen des einundzwanzigsten Jahrhunderts in aller Welt zu überbrücken habe.

In einem einleitenden Teil wird der Koran von Wild vorgestellt: »Die Heilige Schrift nach dem Propheten Mohammed.« Der Koran ist ungeschaffene, eine schon vor jeder Schöpfung existierende göttliche Rede, die streng zu trennen ist von dem Menschen Mohammed Ibn 'A

bdallah, der diese göttliche Rede als Offenbarung nur weitergegeben hat. Gottes unerschaffene Rede ist durch Mohammed Wortgeworden. Jeder der mehr als sechstausend Verse des Korans ist gleichwertig, jeder hat Offenbarungsgewicht, kein Wort ist willkürlich. Kann man an den Koran, diese Wort gewordene Rede Gottes, überhaupt moderne, kritische Fragen stellen, »nur weil diese Fragen nichtmuslimischen modernen Beobachtern nun einmal interessant erscheinen mögen?« (Wild).

Bevor der Autor diese Frage beantwortet, stellt er erst einmal den Gott des Korans vor, und zwar durch eine Interpretation der 112. Sure, der drittletzten, des Korans. Sie lautet: »Im Namen Gottes des allbarmherzigen Erbarmers / 1 Sprich: Gott ist Einer: / 2 Ein ewig reiner. / 3 Hat nicht gezeugt und ihngezeugt hat keiner, / 4 Und nicht ihm gleich ist einer.«

Der Einzigartigkeit Gottes korrespondiert die Sonderstellung, die Mohammed unter den Menschen hat. Zwar ist auch er nur Mensch, dessen Fehler nicht verschwiegen werden, dennoch ist er ein »Modell für die Muslime.« In Sure 33 Vers 21 sagt Gott: »Euch aber wurde am Gesandten Gottes ein schönes Beispiel.« Immer wieder wird im Koran darauf verwiesen, daß man neben Gott auch seinem Gesandten zu gehorchen habe. Mohammed ist privilegiert mit göttlicher Autorität. Sollte der Koran, dieses Wort des einzigartigen Gottes, vermittelt durch seinen mit göttlicher Autorität ausgestatteten Gesandten, wirklich durch die Moderne herausgefordert werden können? Ist nicht die Modernität des Korans selbst für alle Zeiten dadurch gegeben, daß er ungeschaffen und ewig ist? Wild stellt im Verlauf seiner Untersuchung fünf muslimische Autoren vor, die sich solch einer Herausforderung stellen: den Ägypter Nasr Hamid Abu Zaid, den Syrer Muhammad Shahrur, den Iraner Abdolkarim Sorush, den Pakistani Fazlur Rahman und den Südafrikaner Farid Esack.

In Deutschland ist von diesen Denkern besonders Abu Zaid bekannt gemacht worden. Wild benutzt durchgängig das Gegensatzpaar vormodern/traditionell – modern, ohne deutlich zu machen, was für ihn die Moderne ist. Doch wenn die von ihm vorgestellten Autoren ihre wissenschaftliche Methode als cartesianisch bezeichnen, sich bei ihrem Mythos-Begriff auf Ernst Cassirer und sich in ihrer Hermeneutik auf Rudolf Bultmann oder Hans-Georg Gadamer berufen, wenn ihnen die Trennung von Staat und Kirche in Europa als Vorbild dient, dann erkennt man, was die Moderne ist: nicht die Neuzeit, sondern das westliche, nichtislamische Denken. Selbst ein Denker wie Abu Zaid, der durchgängig eigentlich rein islamisch argumentiert, beruft sich an prominenter Stelle seiner Korananalyse auf die Sprachphilosophie de Saussures. Die muslimische Tradition jedoch möchte er töten: »Und nehmen Sie das Wort Töten wörtlich, denn die Tradition ist eine Last.« Die modernen Exegeten wollen sich von dieser Last befreien. Farid Esacks Hermeneutik des Korans sei, so Wild, einer »Befreiungstheologie untergeordnet«.

Die lesenswerte Studie von Stefan Wild macht so auch deutlich, warum die von ihm behandelten Exegeten Einzelfälle sind und (noch?) nicht von der muslimischen Mehrheit anerkannt werden: Sie stellen sich mit dem Instrumentarium westlicher Philologie und Philosophie gegen die islamische Tradition. Und so bleibt die Frage im Raum stehen: Gibt es eine legitime Interpretation des Korans ohne die muslimische Tradition? Wild nimmt an, daß es trotz dieser modernen Exegesen weiterhin »fundamentalistische Exegesen« geben wird, denn der Koran als Eckstein des islamischen kulturellen Gedächtnisses und mit ihm die Tradition seiner Auslegung werde nicht verschwinden.

Friedrich Niewöhner


Frankfurter Rundschau, 22.10.2001, Nr. 245

Wenn einem ein Buch zu einem religionswissenschaftlichen Thema in die Hände fällt und man sofort den Eindruck hat, es sei ja politisch äußerst relevant – das kann kein gutes Zeichen sein. Entweder im Namen einer Religion wird gerade Unrecht getan. Oder einer Religion wird Unrecht getan. Oder beides. Kein Wunder also, dass in diesen Tagen Christen und Ex-Christen in Buchhandlungen suchen, welche Koranübersetzung für ihren Wissensdurst wohl die beste sei. Der Koran aber, findet mancher bald, ist kein ganz leichtes Buch; genau genommen ist er sogar gar kein Buch, sondern das Wort Gottes, gerichtet an seinen Propheten Mohammed. So rezitieren ihn Muslime, und so erklärt es der Islamwissenschaftler Stefan Wild in behutsamen, wohlüberlegten Worten. Seine 54-seitigen Erläuterungen sind ein wunderbarer Begleiter für jeden, der sich zum ersten oder auch wiederholten Mal dem Koran nähert. Gottes Wort, vor fast anderthalb Jahrtausenden gesprochen – wie kann es heute verstanden werden? Wild beschäftigt sich auch mit diesem Problem der Exegese, doch wie gesagt: behutsam. Sich der Gefahr bewusst, dass einem Araber der Orientalist leicht als »eine Spezies von Mensch, die zwischen Missionar und Spion anzusiedeln ist« vorkommen kann, zeigt er, wie muslimische Denker des 20. Jahrhunderts mit den Fragen nach Historizität, Authentizität und Autorität der Suren umgegangen sind. Und so wirft er Licht auf ein Phänomen, das in den letzten Wochen schon viele erklären wollten: dass im Islam ein Oberhaupt fehlt, das ein für alle gültige Auslegung vornehmen könnte; dass es viele Muslime gibt mit vielen Verständnissen ihrer Religion. Obwohl auch Wild weiß: »Man darf das nicht idealisieren. Natürlich ist auch im Bereich der islamischen Kulturen viel Blut um das wahre Verständnis des Koran ... geflossen.« Einige seiner Kollegen, deren Deutungen Wild uns hier vorstellt, hat dies auch zumindest um Lohn und Brot gebracht; ihr Glauben jedoch gründete sich auf Hingabe, auf das Streben nach Gerechtigkeit und Frieden.