Zum Inhalt:
Der Koran ist seit seiner Entstehung im siebten
nachchristlichen Jahrundert das Grunddokument der
islamischen Religion und bis heute allgegenwärtiger
Referenztext der vom Islam geprägten Kulturen. Als
durch den Propheten vermitteltes, aber ungeschmälert
göttliches Wort ist der Koran im radikalsten Sinn und
Wort für Wort göttlich inspiriert. Der
späteren islamischen Theologie gilt der Koran als
ungeschaffenes Wort Gottes und daher als in jeder Hinsicht
unüberbietbarer arabischer text. Der Beitrag stellt die
Grundzüge der im Koran dokumentierten Selbstexplikation
Gottes gegenüber dem Menschen Mohammed dar und
referiert die theologischen und anthropologischen
Dimensionen dieses Diskurses für die Moderne. Das
Menschenbild moderner muslimischer Denker zeigt sich dabei
als in besonderer Weise auf eine moderne Auslegung des
koranischen Texts angewiesen. Gleichzeitig steht es
häufig in Konkurrenz zu den säkularistischen
Menschenbildern einer als westlich dominiert begriffenen
Moderne. Hier liegen die Wurzel für die besonderen
hermeneutischen Probleme zeitgenössischer islamischer
Koranexegese und für bei uns kaum bekannte
innermuslimische Auseinandersetzungen.
Zum Autor:
Geb. 1937 in Leipzig, Studium an den Universitäten
München, Yale-University, Erlangen und Tübingen.
Promotion (1961) und Habilitation (1968) an der
Universität München im Fach Semitistik. Von 1968
bis 1973 Direktor des Orient-Instituts der Deutschen
Morgenländischen Gesellschaft in Beirut/Libanon. Von
1974 bis 1977 Professor für Semitische Sprachen und
Islamwissenschaft an der Universität Amsterdam. Seit
1977 Professor für Semitische Philologie und
Islamwissenschaft an der Universität Bonn. Herausgeber
der Zeitschrift »Die Welt des Islams«.
Hauptarbeitsgebiete: klassische arabische Literatur und
Lexikographie; moderne arabische Literatur und
Geistesgeschichte.
Besprechungen:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.09.2001, Nr. 226 / Seite 58
Jeder Vers eine Offenbarung
Stefan Wilds Studie setzt den Gedanken voraus, daß
»alle muslimische Exegese« sich »heute vor
der Herausforderung der Moderne« sehe. »Darunter
verstehe ich nichts weiter als die Notwendigkeit, eine
Koranauslegung zu finden, die für die Probleme moderner
Menschen relevant ist.« Dieser Satz wiegt schwer, denn
mit ihm wird gefordert, daß ein einziger Text, der
Koran, die Kluft zwischen den wenigen Muslimen im siebten
Jahrhundert auf der saudiarabischen Halbinsel und den mehr
als eine Milliarden Muslimen des einundzwanzigsten
Jahrhunderts in aller Welt zu überbrücken
habe.
In einem einleitenden Teil wird der Koran von Wild
vorgestellt: »Die Heilige Schrift nach dem Propheten
Mohammed.« Der Koran ist ungeschaffene, eine schon vor
jeder Schöpfung existierende göttliche Rede, die
streng zu trennen ist von dem Menschen Mohammed Ibn 'A
bdallah, der diese göttliche Rede als Offenbarung
nur weitergegeben hat. Gottes unerschaffene Rede ist durch
Mohammed Wortgeworden. Jeder der mehr als sechstausend Verse
des Korans ist gleichwertig, jeder hat Offenbarungsgewicht,
kein Wort ist willkürlich. Kann man an den Koran, diese
Wort gewordene Rede Gottes, überhaupt moderne,
kritische Fragen stellen, »nur weil diese Fragen
nichtmuslimischen modernen Beobachtern nun einmal
interessant erscheinen mögen?« (Wild).
Bevor der Autor diese Frage beantwortet, stellt er erst
einmal den Gott des Korans vor, und zwar durch eine
Interpretation der 112. Sure, der drittletzten, des Korans.
Sie lautet: »Im Namen Gottes des allbarmherzigen
Erbarmers / 1 Sprich: Gott ist Einer: / 2 Ein ewig reiner. /
3 Hat nicht gezeugt und ihngezeugt hat keiner, / 4 Und nicht
ihm gleich ist einer.«
Der Einzigartigkeit Gottes korrespondiert die
Sonderstellung, die Mohammed unter den Menschen hat. Zwar
ist auch er nur Mensch, dessen Fehler nicht verschwiegen
werden, dennoch ist er ein »Modell für die
Muslime.« In Sure 33 Vers 21 sagt Gott: »Euch
aber wurde am Gesandten Gottes ein schönes
Beispiel.« Immer wieder wird im Koran darauf
verwiesen, daß man neben Gott auch seinem Gesandten zu
gehorchen habe. Mohammed ist privilegiert mit
göttlicher Autorität. Sollte der Koran, dieses
Wort des einzigartigen Gottes, vermittelt durch seinen mit
göttlicher Autorität ausgestatteten Gesandten,
wirklich durch die Moderne herausgefordert werden
können? Ist nicht die Modernität des Korans selbst
für alle Zeiten dadurch gegeben, daß er
ungeschaffen und ewig ist? Wild stellt im Verlauf seiner
Untersuchung fünf muslimische Autoren vor, die sich
solch einer Herausforderung stellen: den Ägypter Nasr
Hamid Abu Zaid, den Syrer Muhammad Shahrur, den Iraner
Abdolkarim Sorush, den Pakistani Fazlur Rahman und den
Südafrikaner Farid Esack.
In Deutschland ist von diesen Denkern besonders Abu Zaid
bekannt gemacht worden. Wild benutzt durchgängig das
Gegensatzpaar vormodern/traditionell modern, ohne
deutlich zu machen, was für ihn die Moderne ist. Doch
wenn die von ihm vorgestellten Autoren ihre
wissenschaftliche Methode als cartesianisch bezeichnen, sich
bei ihrem Mythos-Begriff auf Ernst Cassirer und sich in
ihrer Hermeneutik auf Rudolf Bultmann oder Hans-Georg
Gadamer berufen, wenn ihnen die Trennung von Staat und
Kirche in Europa als Vorbild dient, dann erkennt man, was
die Moderne ist: nicht die Neuzeit, sondern das westliche,
nichtislamische Denken. Selbst ein Denker wie Abu Zaid, der
durchgängig eigentlich rein islamisch argumentiert,
beruft sich an prominenter Stelle seiner Korananalyse auf
die Sprachphilosophie de Saussures. Die muslimische
Tradition jedoch möchte er töten: »Und
nehmen Sie das Wort Töten wörtlich, denn die
Tradition ist eine Last.« Die modernen Exegeten wollen
sich von dieser Last befreien. Farid Esacks Hermeneutik des
Korans sei, so Wild, einer »Befreiungstheologie
untergeordnet«.
Die lesenswerte Studie von Stefan Wild macht so auch
deutlich, warum die von ihm behandelten Exegeten
Einzelfälle sind und (noch?) nicht von der muslimischen
Mehrheit anerkannt werden: Sie stellen sich mit dem
Instrumentarium westlicher Philologie und Philosophie gegen
die islamische Tradition. Und so bleibt die Frage im Raum
stehen: Gibt es eine legitime Interpretation des Korans ohne
die muslimische Tradition? Wild nimmt an, daß es trotz
dieser modernen Exegesen weiterhin
»fundamentalistische Exegesen« geben wird, denn
der Koran als Eckstein des islamischen kulturellen
Gedächtnisses und mit ihm die Tradition seiner
Auslegung werde nicht verschwinden.
Friedrich Niewöhner
Frankfurter Rundschau, 22.10.2001, Nr. 245
Wenn einem ein Buch zu einem religionswissenschaftlichen
Thema in die Hände fällt und man sofort den
Eindruck hat, es sei ja politisch äußerst
relevant das kann kein gutes Zeichen sein. Entweder
im Namen einer Religion wird gerade Unrecht getan. Oder
einer Religion wird Unrecht getan. Oder beides. Kein Wunder
also, dass in diesen Tagen Christen und Ex-Christen in
Buchhandlungen suchen, welche Koranübersetzung für
ihren Wissensdurst wohl die beste sei. Der Koran aber,
findet mancher bald, ist kein ganz leichtes Buch; genau
genommen ist er sogar gar kein Buch, sondern das Wort
Gottes, gerichtet an seinen Propheten Mohammed. So
rezitieren ihn Muslime, und so erklärt es der
Islamwissenschaftler Stefan Wild in behutsamen,
wohlüberlegten Worten. Seine 54-seitigen
Erläuterungen sind ein wunderbarer Begleiter für
jeden, der sich zum ersten oder auch wiederholten Mal dem
Koran nähert. Gottes Wort, vor fast anderthalb
Jahrtausenden gesprochen wie kann es heute verstanden
werden? Wild beschäftigt sich auch mit diesem Problem
der Exegese, doch wie gesagt: behutsam. Sich der Gefahr
bewusst, dass einem Araber der Orientalist leicht als
»eine Spezies von Mensch, die zwischen Missionar und
Spion anzusiedeln ist« vorkommen kann, zeigt er, wie
muslimische Denker des 20. Jahrhunderts mit den Fragen nach
Historizität, Authentizität und Autorität der
Suren umgegangen sind. Und so wirft er Licht auf ein
Phänomen, das in den letzten Wochen schon viele
erklären wollten: dass im Islam ein Oberhaupt fehlt,
das ein für alle gültige Auslegung vornehmen
könnte; dass es viele Muslime gibt mit vielen
Verständnissen ihrer Religion. Obwohl auch Wild
weiß: »Man darf das nicht idealisieren.
Natürlich ist auch im Bereich der islamischen Kulturen
viel Blut um das wahre Verständnis des Koran ...
geflossen.« Einige seiner Kollegen, deren Deutungen
Wild uns hier vorstellt, hat dies auch zumindest um Lohn und
Brot gebracht; ihr Glauben jedoch gründete sich auf
Hingabe, auf das Streben nach Gerechtigkeit und Frieden.
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