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Ernst-Wolfgang Böckenförde

Vom Wandel des Menschenbildes im Recht

Gerda Henkel Vorlesung
in der Vortragsreihe »Das Menschenbild in der Wissenschaft«

Herausgegeben von der gemeinsamen Kommission der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der
Gerda Henkel Stiftung

2001, 40 Seiten, broschiert
2001, 40 pages, paperback

ISBN 978-3-930454-29-7
Preis/price EUR 9,20

16,5 × 24cm (B×H), 180g


Zum Inhalt:

Im Bereich des Rechts wird das Bild vom Menschen nachhaltig durch das geltende Recht, in dem und mit dem die Menschen leben, geprägt. Dieses Bild gewinnt seinen Ausdruck und seine Gestalt ebenso in den konkreten Regelungen einer Rechtsordnung wie in deren tragenden Prinzipien und den diesen zugrundeliegenden philosophischen Reflexionen. Zugleich ist die Rechtsordnung, die die Menschen umgibt, ein Faktor ihrer Selbsterfahrung, die ihr Selbstverständnis und damit ihr Bild von sich selbst mitbestimmt.

Der Vortrag zeigt auf, in welcher Weise und in welchem Unfang das Menschenbild im Recht, ausgehend vom 17. und 18. Jahrhundert, einem Wandel ausgesetzt gewesen ist, wie sich dieser Wandel insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert vollzogen hat und welches Bild vom Menschen in der heutigen Rechtsordnung zum Ausdruck kommt.


Zum Autor:

Geboren am 19. September 1930 in Kassel. Studium der Rechtswissenschaft und Geschichte an den Universitäten Münster (Westf.) und München. Nach der ersten juristischen Staatsprüfung (OLG Hamm, 1953) Promotion zum Dr.iur (1956) und Dr.phil (1961). Habilitation 1964 in Münster, ordentlicher Professor für öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie an den Universitäten Heidelberg (1964–69), Bielefeld (1969–77) und Freiburg i.B. (seit 1977; Emeritierung 1995). 1983–96 Richter des Bundesverfassungsgerichts. Mitglied der Rheinisch-Westfälischen (1970) und der Bayerischen Akademie der Wissenschaft (1988). Dres.jur h.c. (1987 Basel; 1999 Bielefeld), Dr.theol h.c. (1999 Bochum). Hauptarbeitsgebiete: Staats- und Verfassungsrecht, Verfassungstheorie und Verfassungsgeschichte, Verhältnis von Staat und Kirche sowie Religion und Politik.


Besprechungen:

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.11.2001, Nr. 258 / Seite L25

Tauzeit für die Person im Recht

Vom Menschenbild im Recht ist wieder viel die Rede, seit uns die fundamentalen Neuerungen der Biologie vor ungeahnte rechtliche und moralische Probleme stellen. Das »Menschenbild« der Verfassung ebenso wie die von ihr vorausgesetzte und für unantastbar erklärte »Menschenwürde« sind historisch wandelbare, sprachliche Konstrukte. Es sind normative Zielformeln, die der Orientierung dienen sollen, was eine Gesellschaft in Grenzsituationen will oder nicht will. Da die neuzeitliche Gesellschaft wesentlich durch Recht gesteuert wird, fragt sich, ob solche Formeln ihrerseits das Recht steuern können. Sind sie nur aus Religion und Sitte gewonnene Leitbilder, oder setzen sie sich als Recht gegen das widerständige positive Recht durch, und wenn ja, wie?

Ernst-Wolfgang Böckenförde versteht in seinem gedankenreichen und historisch breit fundierten Essay das »Menschenbild« als eine dem Recht mehr oder weniger voraus- und zugrundeliegende Gesamtvorstellung der Gesellschaft. In diesem Sinn beschreibt er die neuzeitliche Geschichte in drei Stufen. Er setzt ein mit dem zunächst langsamen, dann seit der Reformation beschleunigten Auseinandertreten von Religion und Politik sowie mit dem neuen Verständnis von Recht als Befehl des Souveräns. Gleichwohl bleibt die Gesellschaft weiterhin zutiefst religiös grundiert und in »Stände« gegliedert. Dieses Bild wird auf der zweiten Stufe gesprengt durch die Aufklärung und den revolutionären Anspruch des Individuums auf Autonomie. Freiheit wird Selbstentfaltung, begrenzt durch Recht, um die Selbstentfaltung anderer Individuen zu ermöglichen. Zugleich wird Recht zum individuellen »Anspruch«. Das bedeutet, wie Böckenförde an Beispielen aus dem Ehe- und Familienrecht zeigt, die Verwandlung von vorrechtlichen Gemeinschaftsformen in Vertragsbeziehungen. Zugleich treten erhebliche soziale Schäden auf, weil Freiheit und Gleichheit für Arme und Reiche, Schwache und Starke zugleich proklamiert werden. Also muß wieder der Staat dirigistisch eingreifen, um das Menschenbild des frei sich entfaltenden Individuums zu schützen. Aber je mehr die Massengesellschaft Probleme produziert, gegen die der Staat seine begrenzten rechtlichen Mittel einsetzt, desto mehr verlieren sich die Konturen des einstmals so harmonisch erscheinenden »Menschenbilds«.

Hier, auf der dritten Stufe der Gegenwart, herrscht deshalb Ratlosigkeit. Zwar hat das Grundgesetz, bemerkenswert klar auf die Menschheitsverbrechen des NS-Staates reagierend, die »Menschenwürde« an die Spitze der Wertskala gesetzt. Gerichte und wissenschaftliche Literatur haben dies an immer neuen Problemlagen ausbuchstabiert. Die Grundrechte, denen das Bild der »Freiheit vom Staate« zugrunde lag, entfalteten sich in fünfzig Jahren Rechtsprechung in die Breite und Tiefe, durchdrangen das geltende Recht und etablierten sich als Schutzwall gegen den Gesetzgeber. Aber je differenzierter sich das Gespinst der Ansprüche und Abwehrrechte entfaltete, desto unsicherer wurden die Konturen des »Menschenbilds«.

Böckenförde zieht eine resignativ klingende Bilanz: Man habe vergessen, daß »der Mensch auch für die politische Gemeinschaft da ist«. Auch die alten religiösen Bindungen seien nur noch »Angebote«, die man annehmen oder verwerfen könne. Die Wirtschaft favorisiere den freigesetzten, flexiblen und mobilen Menschen, das »Humankapital«. Der Sozialstaat, lange Zeit vom Bild eines schutzbedürftigen Menschen ausgehend, sucht nun auch hier (notgedrungen) Elemente von Selbstverantwortlichkeit und Risikobereitschaft einzubauen. Im Strafrecht wird einerseits Liberalisierung durch Entkriminalisierung betrieben, während andererseits die Strafnormen des Interventions- und Kontrollstaates wuchern. Auch hier Ratlosigkeit über das zugrunde liegende »Menschenbild«. Es ist zerfallen in Rollenbilder, die den Menschen als Produzenten und Konsumenten, als gesetzestreuen Bürger und als Straftäter, als Lebenspartner, Gläubigen oder Ungläubigen, Aus- oder Inländer, Kultur- und Naturwesen zeigen. Böckenförde beschreibt diese Segmentierung an Beispielen aus dem Eherecht, Schulrecht sowie an den neuesten Fragen der Biologie und Medizin. Die Segmentierung erfaßt übrigens auch die Verfassungsinterpretation, die nur scheinbar aus einer Text-»Quelle« entwickelt wird, sich aber tatsächlich allen Bedürfnissen der pluralistischen Gesellschaft anschmiegt und einem Pluralismus von Zielen huldigt.

Soviel macht Böckenförde, der gerade als ehemaliger Bundesverfassungsrichter seinen Gegenstand kennt, deutlich: Recht kann die kulturellen Orientierungsverluste, die Unsicherheiten der Erziehung, das Wegschmelzen der historisch vermittelten Bindungen nicht wirklich aufhalten. Wenn die Gesellschaft das entsprechende »Menschenbild« nicht aus sich heraus hervorbringt und festhält, erscheint gegensteuerndes Recht nur als Repression. Böckenförde bedauert dies als Wertkonservativer, ist aber auch realistisch genug zu sehen, daß es zu nichts führt, ein religiös oder philosophisch begründetes normatives Menschenbild als Schutz gegen diese Tendenzen zu beschwören. Für die Gegenwart also ein Abschied von der irreführenden Einheitsformel »Menschenbild«, eine kulturkritische Aporie und ein kühler Blick auf die sinkende Steuerungskraft des Rechts.

Michael Stolleis


NJW – Neue Juristische Wochenschrift 2002, Heft 29, 2081

Vom Wandel des Menschenbildes im Recht. Von Ernst-Wolfgang Böckenförde (Gerda Henkel Vorlesung). – Münster, Rhema 2001. 37 S., kart. Euro 9,20

Der aus einer im Dezember 2000 gehaltenen Vorlesung entstandene Beitrag berücksichtigt nicht den letzten Stand der Debatte um Fragen der Gentechnologie und Bioethik, aber er ist von höchster Aktualität für die oft geführte Auseinandersetzung. Gibt es – so fragt Böckenförde – überhaupt noch ein geschlossenes Bild vom Menschen, das die Rechtsordnung prägen könnte? Jedenfalls ist dies, so meint er, nicht mehr das bekannte »Menschenbild des Grundgesetzes«, welches das BVerfG mit der Formel von der »Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit« des Menschen entworfen hat, dem dabei zugleich eigener Wert und eigene Würde zukomme (BVerfGE 4, 7 [15]). Die Diskussion um die Forschung an menschlichen Embryonen, über Präimplantationsdiagnostik oder den Import von den im Ausland gewonnenen Stammzellen dienen Böckenförde als Indiz für den drohenden Verlust eines die Rechtsordnung leitenden Menschenbildes mit der Gefahr, dass das Recht seine Orientierungskraft verliert. Mit dieser skeptischen Analyse schließt die Betrachtung ab, die mit einer an kraftvollen Bildern reichen Darstellung der geschichtlichen Entwicklung vom religiös-christlich geprägten Menschenbild des 16. bis 18. Jahrhunderts über die Aufklärung und die französische Revolution bis in das bürgerlich-autonom verstandene Rechtsverständnis des Industriezeitalters verständlich macht, wie gefährdet heute die Rolle des Rechts als Wegweiser für individuelle und gemeinschaftliche Lebensgestaltung geworden ist.

Die Herausforderung, die mit den neuen und umstrittenen Möglichkeiten der Gentechnologie auch in verfassungsrechtlicher Sicht verbunden ist – ein Themenbereich, zu dem sich Böckenförde in mehreren Beiträgen mit eindrucksvoller Klarheit und Entschiedenheit geäußert hat – kann ein Anlass sein, sich des rechten Menschenbildes wieder zu besinnen, so wie es das Grundgesetz vor allem in seinem ersten Artikel verlangt. Es geht, wie gerade Böckenförde immer wieder betont, nicht »nur« um die Frage, wann menschliches Leben beginnt und ob schon dem Embryo vom Zeitpunkt der Befruchtung an Menschenwürde und das Recht auf Leben zukommt. Die hierüber geführte Debatte wird allmählich fruchtlos, weil alle verfügbaren Argumente ausgetauscht sind. Was noch nicht ausdiskutiert und vielleicht noch sehr viel wichtiger ist, ergibt sich aus der Frage, was man dem Menschen, also uns allen, antut, wenn das Leben im Frühstadium für Zwecke der Forschung, auch der erhofften Befreiung von Krankheiten, verfügbar gemacht wird. Hierauf kann nur geantwortet werden, wenn das Bild vom Menschen wieder Konturen gewinnt, die in Gefahr sind, verloren zu gehen. Zu dieser Besinnung fordert der Beitrag auf. Sie ist dringend notwendig. Die Stimme von Böckenförde ist hierfür von größter Bedeutung.

Präsident des BVerfG a.D. Professor Dr. Ernst Benda, Karlsruhe