Zum Inhalt:
Im Bereich des Rechts wird das Bild vom Menschen
nachhaltig durch das geltende Recht, in dem und mit dem die
Menschen leben, geprägt. Dieses Bild gewinnt seinen
Ausdruck und seine Gestalt ebenso in den konkreten
Regelungen einer Rechtsordnung wie in deren tragenden
Prinzipien und den diesen zugrundeliegenden philosophischen
Reflexionen. Zugleich ist die Rechtsordnung, die die
Menschen umgibt, ein Faktor ihrer Selbsterfahrung, die ihr
Selbstverständnis und damit ihr Bild von sich selbst
mitbestimmt.
Der Vortrag zeigt auf, in welcher Weise und in welchem
Unfang das Menschenbild im Recht, ausgehend vom 17. und
18. Jahrhundert, einem Wandel ausgesetzt gewesen ist,
wie sich dieser Wandel insbesondere im 19. und
20. Jahrhundert vollzogen hat und welches Bild vom
Menschen in der heutigen Rechtsordnung zum Ausdruck
kommt.
Zum Autor:
Geboren am 19. September 1930 in Kassel. Studium der
Rechtswissenschaft und Geschichte an den Universitäten
Münster (Westf.) und München. Nach der ersten
juristischen Staatsprüfung (OLG Hamm, 1953) Promotion
zum Dr.iur (1956) und Dr.phil (1961). Habilitation 1964 in
Münster, ordentlicher Professor für
öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte,
Rechtsphilosophie an den Universitäten Heidelberg
(196469), Bielefeld (196977) und
Freiburg i.B. (seit 1977; Emeritierung 1995).
198396 Richter des Bundesverfassungsgerichts. Mitglied
der Rheinisch-Westfälischen (1970) und der Bayerischen
Akademie der Wissenschaft (1988). Dres.jur h.c. (1987 Basel;
1999 Bielefeld), Dr.theol h.c. (1999 Bochum).
Hauptarbeitsgebiete: Staats- und Verfassungsrecht,
Verfassungstheorie und Verfassungsgeschichte,
Verhältnis von Staat und Kirche sowie Religion und
Politik.
Besprechungen:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.11.2001, Nr. 258 / Seite L25
Tauzeit für die Person im Recht
Vom Menschenbild im Recht ist wieder viel die Rede, seit
uns die fundamentalen Neuerungen der Biologie vor ungeahnte
rechtliche und moralische Probleme stellen. Das
»Menschenbild« der Verfassung ebenso wie die von
ihr vorausgesetzte und für unantastbar erklärte
»Menschenwürde« sind historisch wandelbare,
sprachliche Konstrukte. Es sind normative Zielformeln, die
der Orientierung dienen sollen, was eine Gesellschaft in
Grenzsituationen will oder nicht will. Da die neuzeitliche
Gesellschaft wesentlich durch Recht gesteuert wird, fragt
sich, ob solche Formeln ihrerseits das Recht steuern
können. Sind sie nur aus Religion und Sitte gewonnene
Leitbilder, oder setzen sie sich als Recht gegen das
widerständige positive Recht durch, und wenn ja,
wie?
Ernst-Wolfgang Böckenförde versteht in seinem
gedankenreichen und historisch breit fundierten Essay das
»Menschenbild« als eine dem Recht mehr oder
weniger voraus- und zugrundeliegende Gesamtvorstellung der
Gesellschaft. In diesem Sinn beschreibt er die neuzeitliche
Geschichte in drei Stufen. Er setzt ein mit dem
zunächst langsamen, dann seit der Reformation
beschleunigten Auseinandertreten von Religion und Politik
sowie mit dem neuen Verständnis von Recht als Befehl
des Souveräns. Gleichwohl bleibt die Gesellschaft
weiterhin zutiefst religiös grundiert und in
»Stände« gegliedert. Dieses Bild wird auf
der zweiten Stufe gesprengt durch die Aufklärung und
den revolutionären Anspruch des Individuums auf
Autonomie. Freiheit wird Selbstentfaltung, begrenzt durch
Recht, um die Selbstentfaltung anderer Individuen zu
ermöglichen. Zugleich wird Recht zum individuellen
»Anspruch«. Das bedeutet, wie
Böckenförde an Beispielen aus dem Ehe- und
Familienrecht zeigt, die Verwandlung von vorrechtlichen
Gemeinschaftsformen in Vertragsbeziehungen. Zugleich treten
erhebliche soziale Schäden auf, weil Freiheit und
Gleichheit für Arme und Reiche, Schwache und Starke
zugleich proklamiert werden. Also muß wieder der Staat
dirigistisch eingreifen, um das Menschenbild des frei sich
entfaltenden Individuums zu schützen. Aber je mehr die
Massengesellschaft Probleme produziert, gegen die der Staat
seine begrenzten rechtlichen Mittel einsetzt, desto mehr
verlieren sich die Konturen des einstmals so harmonisch
erscheinenden »Menschenbilds«.
Hier, auf der dritten Stufe der Gegenwart, herrscht
deshalb Ratlosigkeit. Zwar hat das Grundgesetz,
bemerkenswert klar auf die Menschheitsverbrechen des
NS-Staates reagierend, die »Menschenwürde«
an die Spitze der Wertskala gesetzt. Gerichte und
wissenschaftliche Literatur haben dies an immer neuen
Problemlagen ausbuchstabiert. Die Grundrechte, denen das
Bild der »Freiheit vom Staate« zugrunde lag,
entfalteten sich in fünfzig Jahren Rechtsprechung in
die Breite und Tiefe, durchdrangen das geltende Recht und
etablierten sich als Schutzwall gegen den Gesetzgeber. Aber
je differenzierter sich das Gespinst der Ansprüche und
Abwehrrechte entfaltete, desto unsicherer wurden die
Konturen des »Menschenbilds«.
Böckenförde zieht eine resignativ klingende
Bilanz: Man habe vergessen, daß »der Mensch auch
für die politische Gemeinschaft da ist«. Auch die
alten religiösen Bindungen seien nur noch
»Angebote«, die man annehmen oder verwerfen
könne. Die Wirtschaft favorisiere den freigesetzten,
flexiblen und mobilen Menschen, das
»Humankapital«. Der Sozialstaat, lange Zeit vom
Bild eines schutzbedürftigen Menschen ausgehend, sucht
nun auch hier (notgedrungen) Elemente von
Selbstverantwortlichkeit und Risikobereitschaft einzubauen.
Im Strafrecht wird einerseits Liberalisierung durch
Entkriminalisierung betrieben, während andererseits die
Strafnormen des Interventions- und Kontrollstaates wuchern.
Auch hier Ratlosigkeit über das zugrunde liegende
»Menschenbild«. Es ist zerfallen in
Rollenbilder, die den Menschen als Produzenten und
Konsumenten, als gesetzestreuen Bürger und als
Straftäter, als Lebenspartner, Gläubigen oder
Ungläubigen, Aus- oder Inländer, Kultur- und
Naturwesen zeigen. Böckenförde beschreibt diese
Segmentierung an Beispielen aus dem Eherecht, Schulrecht
sowie an den neuesten Fragen der Biologie und Medizin. Die
Segmentierung erfaßt übrigens auch die
Verfassungsinterpretation, die nur scheinbar aus einer
Text-»Quelle« entwickelt wird, sich aber
tatsächlich allen Bedürfnissen der pluralistischen
Gesellschaft anschmiegt und einem Pluralismus von Zielen
huldigt.
Soviel macht Böckenförde, der gerade als
ehemaliger Bundesverfassungsrichter seinen Gegenstand kennt,
deutlich: Recht kann die kulturellen Orientierungsverluste,
die Unsicherheiten der Erziehung, das Wegschmelzen der
historisch vermittelten Bindungen nicht wirklich aufhalten.
Wenn die Gesellschaft das entsprechende
»Menschenbild« nicht aus sich heraus
hervorbringt und festhält, erscheint gegensteuerndes
Recht nur als Repression. Böckenförde bedauert
dies als Wertkonservativer, ist aber auch realistisch genug
zu sehen, daß es zu nichts führt, ein
religiös oder philosophisch begründetes normatives
Menschenbild als Schutz gegen diese Tendenzen zu
beschwören. Für die Gegenwart also ein Abschied
von der irreführenden Einheitsformel
»Menschenbild«, eine kulturkritische Aporie und
ein kühler Blick auf die sinkende Steuerungskraft des
Rechts.
Michael Stolleis
NJW Neue Juristische Wochenschrift 2002, Heft 29, 2081
Vom Wandel des Menschenbildes im Recht. Von
Ernst-Wolfgang Böckenförde (Gerda Henkel
Vorlesung). – Münster, Rhema 2001. 37 S.,
kart. Euro 9,20
Der aus einer im Dezember 2000 gehaltenen Vorlesung
entstandene Beitrag berücksichtigt nicht den letzten
Stand der Debatte um Fragen der Gentechnologie und Bioethik,
aber er ist von höchster Aktualität für die
oft geführte Auseinandersetzung. Gibt es
– so fragt Böckenförde –
überhaupt noch ein geschlossenes Bild vom Menschen, das
die Rechtsordnung prägen könnte? Jedenfalls ist
dies, so meint er, nicht mehr das bekannte
»Menschenbild des Grundgesetzes«, welches das
BVerfG mit der Formel von der
»Gemeinschaftsbezogenheit und
Gemeinschaftsgebundenheit« des Menschen entworfen hat,
dem dabei zugleich eigener Wert und eigene Würde
zukomme (BVerfGE 4, 7 [15]). Die Diskussion um
die Forschung an menschlichen Embryonen, über
Präimplantationsdiagnostik oder den Import von den im
Ausland gewonnenen Stammzellen dienen
Böckenförde als Indiz für den
drohenden Verlust eines die Rechtsordnung leitenden
Menschenbildes mit der Gefahr, dass das Recht seine
Orientierungskraft verliert. Mit dieser skeptischen Analyse
schließt die Betrachtung ab, die mit einer an
kraftvollen Bildern reichen Darstellung der geschichtlichen
Entwicklung vom religiös-christlich geprägten
Menschenbild des 16. bis 18. Jahrhunderts über die
Aufklärung und die französische Revolution bis in
das bürgerlich-autonom verstandene
Rechtsverständnis des Industriezeitalters
verständlich macht, wie gefährdet heute die Rolle
des Rechts als Wegweiser für individuelle und
gemeinschaftliche Lebensgestaltung geworden ist.
Die Herausforderung, die mit den neuen und umstrittenen
Möglichkeiten der Gentechnologie auch in
verfassungsrechtlicher Sicht verbunden ist – ein
Themenbereich, zu dem sich Böckenförde in
mehreren Beiträgen mit eindrucksvoller Klarheit und
Entschiedenheit geäußert hat – kann
ein Anlass sein, sich des rechten Menschenbildes wieder zu
besinnen, so wie es das Grundgesetz vor allem in seinem
ersten Artikel verlangt. Es geht, wie gerade
Böckenförde immer wieder betont, nicht
»nur« um die Frage, wann menschliches Leben
beginnt und ob schon dem Embryo vom Zeitpunkt der
Befruchtung an Menschenwürde und das Recht auf Leben
zukommt. Die hierüber geführte Debatte wird
allmählich fruchtlos, weil alle verfügbaren
Argumente ausgetauscht sind. Was noch nicht ausdiskutiert
und vielleicht noch sehr viel wichtiger ist, ergibt sich aus
der Frage, was man dem Menschen, also uns allen, antut, wenn
das Leben im Frühstadium für Zwecke der Forschung,
auch der erhofften Befreiung von Krankheiten, verfügbar
gemacht wird. Hierauf kann nur geantwortet werden, wenn das
Bild vom Menschen wieder Konturen gewinnt, die in Gefahr
sind, verloren zu gehen. Zu dieser Besinnung fordert der
Beitrag auf. Sie ist dringend notwendig. Die Stimme von
Böckenförde ist hierfür von
größter Bedeutung.
Präsident des BVerfG a.D. Professor Dr. Ernst Benda, Karlsruhe
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